Britta Heidemann gewinnt Silber im Fechten:Londons längste Schlusssekunde

Am Ende eines denkwürdigen Abends für den Fechtsport steht die erste deutsche Medaille bei diesen Spielen. In einem aufregenden Halbfinale schlägt Britta Heidemann die Südkoreanerin Shin A Lam durch Sudden Death. Die protestiert ohne Erfolg gegen die Wertung, die Deutsche steht im Finale. Dort hat ihre Gegnerin die besseren Nerven.

Volker Kreisl, London

Am Ende war es kein Gefecht mehr, sondern nur noch ein Standbild. Darüber, dass sie in dieses Degen-Finale eingezogen war, dass ihr mindestens Silber sicher war, hatte Britta Heidemann eigentlich schon ausgiebig gejubelt. Dann aber war sie zurückgepfiffen worden, und eine nervenzehrende Wartezeit begann. Ihr letzter Treffer bekam nach zweimaligem Protest ihrer südkoreanischen Gegnerin nicht die offizielle Bestätigung. Heidemann stand. Shin A Lam saß. Heidemann schaute starr in die Luft. Shin weinte.

Was sich abspielte, war einer der skurrilsten Proteste der Olympia-Geschichte auf eine der zeitlich knappsten Entscheidungen in der Historie des Fechtens. Mitgezittert hatten nicht nur die deutschen Fechter, sondern der ganze deutsche Sport, dem bis zum Ende des dritten Olympiatages eine Medaille fehlte. Das hatte es seit Jahrzehnten nicht gegeben.

Am Ende durfte Heidemann aber ein zweites Mal jubeln, diesmal auf das Zeichen des Ober-Obmanns. Das bedeutete ja schon die Silbermedaille - und dabei sollte es bleiben: Ähnlich knapp wie das Gefecht zuvor war das Finale ausgegangen, es endete im Sudden Death 9:8 für die Ukrainerin Jana Schemjakina. Heidemann gewann ihre zweite Olympia-Einzelmedaille nach dem Sieg von 2008. "Nach Gold in Peking und Silber hier - ganz doll, darf ich mich nicht beschweren", sagte die 29-jährige Leverkusenerin.

Bronze gewann die Chinesin Sum Yujie. Shin A Lam gewann nichts: Vierte.

Die Frage, was in dieser letzten Sekunde des Halbfinalgefechts passiert ist, überlagerte irgendwie alle weiteren Ereignisse, alle Bedeutungen von Medaillen. In der offiziellen, laut Anzeige gestoppten letzten Sekunde des Halbfinalgefechts hatte Heidemann Treffer gesetzt, die unmöglich erschienen. Sie hatte dreimal die knapp zwei Meter zwischen ihr und Shin überwunden und getroffen. Dazwischen wurde die Uhr jeweils angehalten. Weil Shin gleichzeitig traf, blieb es zunächst beim Gleichstand, erst mit dem letzten Sprungstoß setzte sich Heidemann vor sie, ein knapperer Sieg ist kaum denkbar.

Spät erst erklärte Frantisek Janda, Europas Verbandspräsident und Mitglied im Exekutiv-Komitee des Weltverbands FIE, was passiert war: Der Obfrau waren die ersten Treffer seltsam vorgekommen, sie unterbrach kurz und ließ die Uhr, die vermeintlich abgelaufen sein musste, auf eine glatte Sekunde zurückstellen. Weil sie das Einverständnis beider Fechterinnen einholte, hatte Shins Protest keine Chance.

Die koreanische Partei blieb verständlicherweise beharrlich. Shin und ihr Trainer waren in dem Standbild irgendwann allein. Heidemann hatte sich zurückgezogen, nachdem nach der Obfrau auch das Kampfgericht ihr den letzten Punkt zugesprochen hatte. Doch Südkorea legte einen weiteren, diesmal offiziellen Protest ein. Shin und ihr Trainer weigerten sich, Fechtbahn und Trainerstuhl zu verlassen. Ein offizieller Protest folgt exakten Regeln, und nachdem es, was zwischendurch in Vergessenheit geriet, um den Olympiasieg ging, wollte die FIE sich nun keine Fehler erlauben: Man wartete auf Geld. Denn der Protestierende muss eine Sicherheit hinterlegen. Die Südkoreaner brauchten dazu Zeit, die Funktionäre gewährten sie, das Publikum wartete geduldig, während sich auf der Tribüne deutsche Berichterstatter sammelten, die eigentlich von der ersten deutschen Medaille berichten wollten.

Shin saß tapfer auf der Kante der großen Planche, und irgendwann legte ihr jemand ein Handtuch über die Schultern.

Shins Sitzstreik erobert die Herzen der Engländer

Heidemann schwankte unterdessen zwischen dem Zorn auf den Verband und dessen Technik und dem Mitgefühl für ihre Gegnerin. Das Problem, sagte sie später, liege in der Darstellung der Uhr: "Wir Fechter sehen nur die vollen Sekunden." Dahinter laufen natürlich auch Zehntel und Hundertstel ab. Und nun wurde es detailreich in der Mixed-Zone, aber immerhin letztlich doch logisch. Es kommt schließlich häufig vor, dass Treffer in Abständen von Sekundenbruchteilen fallen und die Fechter es nicht glauben können. "Ich kann Shin verstehen, ich habe so etwas selber schon erlebt", sagte Heidemann. Fechten ist ein schneller Sport, bei dem die Augen des Laien schon in den geläufigsten Szenen nicht mehr mitkommen.

Als Shin mitgeteilt wurde, dass ihr Protest abgewiesen worden war, warf sie das Handtuch hinter sich und verließ schluchzend die Halle - man fragte sich, wie sie in diesem Zustand das Bronzegefecht überstehen sollte. Doch zehn Minuten später trat sie an, und schon beim Einmarsch wurde klar, für wen das Londoner Publikum fortan jubeln würde. Shin hatte mit ihrem Sitzstreik die Herzen der Engländer erobert, sie bejubelten sie, als würde sie seit Jahren für den britischen Verband fechten.

Shin ging gegen die Chinesin Sun Yujie früh in Führung, aber Sun ist Weltranglistenerste und ließ sich vom Publikum letztlich nicht beeindrucken.

Dem Weltverband der Fechter schließlich kann man nicht vorwerfen, er sei nicht mit der Zeit gegangen. Anders als in anderen, weitaus populäreren Sportarten, wurde im Fechten längst der Videobeweis leingeführt, er zählt zum Standard und verhindert eigentlich unschöne Protestszenen wie in diesem Olympia-Halbfinale. Nun sollte es die FIE nur noch hinkriegen, den Zeitablauf in Zehntel- und Hundertstel anzuzeigen. Das wiederum können alle anderen Sportarten perfekt.

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