Süddeutsche Zeitung

Bretschneider bei der Turn-WM:Wenn das Reck zur Steinschleuder wird

  • Andreas Bretschneider war eigentlich eine Karriere als Mitläufer vorbestimmt. Nun will er im WM-Reckfinale das schwerste Element der Turngeschichte zeigen.
  • Der "Bretschneider" ist so spektakulär und schwierig - außer ihm beherrscht die Übung keiner.

Von Volker Kreisl, Glasgow

Das Problem ist die Schulter, genauer gesagt, der "Arm-Rumpf-Winkel". Noch genauer ist es die gottgegebene Beschaffenheit der Knochen, Knorpel und Bänder in Andreas Bretschneiders Gelenken. Die öffnen sich nicht so weit wie normale Spitzenturner-Gelenke, und deshalb ist sein Arm-Rumpf-Winkel bescheiden, obwohl er sich seit Jahren täglich eine knappe halbe Stunde an die Stange hängt. Fast jeder 26-Jährige kann seinen Arm so weit in die Höhe strecken, dass der Winkel zum Rumpf 180 Grad ergibt. "Ich komme auf 165", sagt Bretschneider, 26. Das ist zu wenig.

Trotzdem steht er gerade in der Lobby des Mannschaftshotels und gibt Interviews. Dabei ist einer mit seinen Voraussetzungen eigentlich ein Ergänzungsturner. Ein Diener der Mannschaft, der den Cracks hilft, die nötigen Zehntelpunkte in der Team-Qualifikation zusammenzukratzen. Einer wie der Fußballer Schwarzenbeck es für Franz Beckenbauer war. Nur jetzt ist Bretschneider gefragt, denn er steht am Sonntag wie Fabian Hambüchen, der erkältet auf den Mehrkampf am Freitag verzichtete, im Reckfinale der WM. Und er turnt das schwierigste Element der Turn-Geschichte.

Die Geschichte dieses Chemnitzers berührt daher auch das Sport-Philosophische. Die Frage nämlich, ob einer immer dort bleiben muss, wo die Natur oder auch die Trainer glauben, ihn aufstellen zu müssen. Oder ob er sich daraus befreien kann. Bretschneider hielt seine Einordnung früher für selbstverständlich: "Seit ich mit sechs angefangen habe, war ich in jeder Trainingsgruppe immer eher bei den Schlechteren als bei den Besseren", sagt er. Bei den eher Eckigen und Rumpeligen als bei den Eleganten und Geschmeidigen. Dann wurde Andreas Bretschneider älter, und entdeckte doch noch rechtzeitig, dass er zwar ein Eckiger war, aber ein Eckiger mit Kämpferherz.

Mit 19 Jahren muss das gewesen sein, er hatte sein Abitur gemacht, und wie viele Turner stand er vor der Frage, ob sich das viele Schwitzen überhaupt lohnt. Doch die ehrliche Bilanz war gar nicht so schlecht. Seinen Mängeln standen Vorteile gegenüber. Denn er hatte auf der anderen Seite nicht nur Ehrgeiz, sondern auch eine geringe Körpergröße, viel Schnellkraft und eine hohe Rotationsgeschwindigkeit in der Luft. Und das ergab zusammen logischerweise die Lust am Fliegen.

Was er, wenn alles gut geht, am Sonntag zeigt, ist seine eigene Kreation, nennt sich also Bretschneider und ist so schwer, dass es keiner auf der Welt derzeit schafft. Die Turn-Kommissare gradieren die Schwierigkeitswerte nach den Buchstaben des Alphabets, sie fangen bei A an und waren bisher bis G gekommen. Bretschneiders Schwierigkeit aber sprengt diesen Rahmen, daher hat sie die für einen jungen Mann etwas unpassend klingende, aber von Insidern durchaus ehrfürchtig geraunte Bezeichnung "H-Teil".

Kurz gesagt ist es ein Blindflug. Das Nonplusultra der akrobatischen Recküberquerung war bislang der Cassina, ein gestreckter Doppelsalto mit ganzer Drehung. Turner wie der Holländer Epke Zonderland, der Japaner Kohei Uchimura oder Hambüchen schrauben ihre Werte auch in die Höhe, indem sie Elemente ohne Zwischenschwung aneinanderreihen, was viel schwieriger ist. Und Bretschneider dachte sich, er müsse "was richtig Spektakuläres" bringen. Er turnt im Flug also einen Doppel-Doppel: einen Doppelsalto mit Doppeldrehung. "Wenn du bei einfacher Drehung die Stange verlässt, dann behältst du sie immer im Blick, erst ist sie da, dann da - dann da: neben dir, und dann wieder da", sagt er, während er in verschiedene Richtungen über sich deutet, "aber ich sehe durch die zweite Drehung fast nichts."

Er muss den Flug also umso genauer berechnen und vorbereiten. Turner nutzen die dehnbare Reckstange als Steinschleuder für sich selber. Bei der Riesenfelge vor dem Abflug muss Bretschneider das Eisen per Beinschlag und Armkraft herunterziehen, damit es ihn auf die richtige Umlaufbahn wirft. Die vergangenen Trainingsversuche haben funktioniert.

Am Sonntag turnt er als Erster, Hambüchen als Achter und Letzter. Der ist 28, wegen seines Ausnahmetalents schon seit 13 Jahren auf höchstem Niveau und hat gute Medaillenchancen. Bei Bretschneider ist das anders. Bei ihm hängt die Frage der Medaille von dem einen Element ab, bei dem rundherum die Handy-Kameras in die Höhe gehen. Er wird im Rampenlicht stehen, und wenn es klappt, wird er etwas Spektakuläres zeigen, Hochriskantes, Überdurchschnittliches.

Das, was er immer gewollt hat.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2716324
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 31.10.2015
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.