Das ist es nun also wirklich gewesen. Die deutsche Hymne verklingt, Lisa Brennauer und Mieke Kröger haben gerade lauthals mitgesungen. Kurz zuvor, an der Bahn, waren sie einander noch weinend in den Armen gelegen an diesem Samstagabend. Vor dem Doppelsieg der beiden hatte bereits Emma Hinze ihre zweite Goldmedaille gewonnen, im nicht olympischen 500-Meter-Zeitfahren, in 32,668 Sekunden, nach der Qualifikation gleich der nächste deutsche Rekord. Auch Nicolas Heinrich, 20, aus Zwickau, sollte später noch Gold holen in der Einerverfolgung. Und nun hatte man eigentlich auch mit Brennauers zweitem Gold gerechnet, ebenfalls in der Einerverfolgung. Aber jetzt hängt an ihrem Hals eine Silbermedaille. Gold trägt Kröger.
Es ist die allerletzte Zugabe, die Lisa Brennauer im Bahnradsport gibt. Der letzte Vorhang für die Ausnahmeathletin aus Durach, einer kleinen Gemeinde bei Kempten, die am Vormittag in der Qualifikation die Bestzeit fuhr, deutlich vor ihrer Teamkollegin Mieke Kröger auf Rang zwei. Ein rein deutsches Finale würde es also geben am Abend, da könne jetzt nichts mehr schiefgehen, stellte sie zufrieden fest. Es ging dann ja auch nichts schief. "Wenn mich eine schlagen darf, dann sie", sagte Brennauer über ihre Kollegin, die im Finale die schnelleren Beine und die bessere Taktik gehabt habe.
Die letzten Meter ihrer Karriere führen sie dann im Straßenradrennen auf den Odeonsplatz
Schon tags zuvor hatte sich in der Münchner Messe fast alles um Lisa Brennauer gedreht - weshalb sich sogar das andere deutsche Goldteam vom ersten Finaltag, das Sprinttrio um Emma Hinze, etwas gedulden musste in der Mixed Zone, ehe es drankam zum Siegerinterview. Ihretwegen war das Publikum am Freitag regelrecht ausgeflippt (oder besser: wegen ihres Teams). Und ihretwegen wurden die Helfer plötzlich hektisch, weil die 34-Jährige kurz vor der anstehenden Siegerehrung verschwunden war. "Wo ist Lisa?", raunten sie. "Lisa fehlt!"
Diese Feststellung wird man künftig vielleicht öfter hören.
Die letzten Meter ihrer Karriere wird Lisa Brennauer nicht auf diesem anspruchsvollen Holzoval in der Messehalle C1 zurücklegen, sondern am Abschlusstag der European Championships auf der Münchner Ludwigstraße. Auch bei dieser EM nimmt die Allgäuerin neben den Bahn- auch am Straßenradrennen teil, genau wie ihre Kolleginnen aus dem Vierer, das Ziel ist der Odeonsplatz. Sie hat ja in beiden Kategorien internationale Medaillen gesammelt wie andere Leute Schuhe oder Briefmarken. Auch die Tour de France ist sie vor Kurzem noch mitgefahren.
Aber auf der Bahn war es das nun. Und dass Brennauer am Schluss noch einmal so im Mittelpunkt steht, sagt umso mehr aus über ihre Karriere, da sie gar nicht unbedingt der Typ ist, der ins Rampenlicht drängt. Immer wieder geht ihr Blick am Freitag beim Interview nach dem Sieg in der Mannschaftsverfolgung nach links zu den Kolleginnen, um lieber ihnen das Mikro zu überlassen. "Wir sind einfach glücklich über diese Kombination, die wir sind", sagte dort etwa Mieke Kröger, "wir können alle unsere Stärken gut ausspielen." Noch ist nicht ganz ins Bewusstsein der Bielefelderin gesickert, dass sie diese Sätze jetzt bereits in der Vergangenheitsform formulieren müsste. Denn es wird diese Kombination ja nicht mehr geben.
Es sei ihr gemeinsames Erfolgsgeheimnis, erläuterte Franziska Brauße, dass sich die anderen drei "supergut erholen" könnten, solange Mieke Kröger voranfährt und Windschatten gibt, deshalb könnten sie auf dem letzten der vier Kilometer dann noch so hohes Tempo gehen. Am Freitag war das auch dringend nötig, denn die Italienerinnen im Finale hatten drei Viertel des Rennens geführt, zum Teil sogar deutlich. Ausgerechnet zu Brennauers Abschied geriet der Nimbus der unbesiegbaren Weltrekordhalterinnen kurz ins Wanken. Die folgende Aufholjagd ließ das Publikum dann toben. "Wahnsinn!", kommentiert Brennauer den Gänsehautmoment, "gigantisch!" Ein "superemotionaler Abschluss" sei das für sie gewesen mit diesem Team, sagt sie, das einen Teil seiner Stärken sicherlich auch ohne sie behalten wird. Wie zum Beweis hat Kröger am Samstag ja dieses Gold geholt. Und doch wissen sie alle genau, wer sie da nun verlassen wird.
Lockerheit, Spaß, Wissen und Erfahrung hat Brennauer in ihr Team eingebracht
"Sie ist eine Kämpferin, eine, die das Team zusammenhält", skizzierte Lisa Klein, die sich beim Goldgewinn am schwersten tat nach einer Corona-Infektion. Eine, auf die Verlass sei, die auf jede Frage eine Antwort wisse, die auch ein bisschen Lockerheit und Spaß in die Gruppe bringe und "die ihr Wissen und ihre Erfahrung mit uns teilt". Die Erfahrung: Mit dem Straßenrad war Lisa Brennauer 2005 schon Juniorenweltmeisterin im Einzelzeitfahren, 2013 wurde sie erstmals Weltmeisterin mit der Mannschaft. Der erste EM-Titel auf der Radbahn folgte 2018, im vergangenen Jahr räumte die Allgäuerin dann alles ab: fünf Goldmedaillen bei EM, WM (je zwei) und Olympia. Das Silber vom Samstag in der Einerverfolgung ist ihre 26. Medaille bei Welt- und Europameisterschaften. Sie wird fehlen.
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"Ein Schock für alle" sei Brennauers Abschiedsankündigung vor gut einer Woche gewesen, sagte Kristina Vogel, die zweimalige Olympiasiegerin aus Erfurt, die nun als TV-Expertin arbeitet. Vielleicht habe sie einfach gespürt, dass es das nun war. Sie könnte einerseits noch ewig weitermachen, erklärt Lisa Brennauer selbst, andererseits wisse sie, wie hart der Weg sei, um dann hier zu stehen. "Das hier werde ich vermissen", sagt sie und blickt sich um. "Den Weg dahin nicht so doll." Der Abschied jedenfalls fühle sich gut an, auch wenn sie nun doch bei jedem Handgriff gedacht habe: "Ui, das ist jetzt das letzte Mal." Die Emotionen mussten dann raus, aber sie geht mit zwei Medaillen bei einer EM in ihrer bayerischen Heimat.
Am Freitagabend, die Interviewtour ist vermeintlich zu Ende, ihr Vierer will Platz machen für das Sprinttrio um Emma Hinze, da wird Lisa Brennauer noch kurz auf Gudrun Stock angesprochen, die inzwischen Gudrun Frank heißt und hier in München die Lokalmatadorin gewesen wäre. Für den Olympiavierer wäre sie gesetzt gewesen im Jahr 2021, musste dann aber wegen gesundheitlicher Probleme auf Tokio verzichten, wurde operiert, statt Gold zu gewinnen, fand danach nicht mehr zurück in ihren Leistungssport und gab kurz vor der EM schweren Herzens ihr Karriereende bekannt, mit 27. Lisa Brennauer bleibt also noch einmal stehen. "Gudrun fehlt uns, schon seit dem Tag, als sie nicht mehr mit uns trainieren konnte", sagt sie dann. "Wahnsinnig wichtig in unserer Mitte" sei die Münchnerin gewesen "sie war so auf dem Weg nach oben und hat dann einfach großes Pech gehabt."
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Sie selbst habe jetzt das Glück, eigenständig ihr Karriereende bestimmen zu können, auch das ist keine Selbstverständlichkeit im Sport. Und sie wolle die Chance gerne nutzen, auch Gudrun Frank auf diesem Weg "für die supercoole Zeit" und die gemeinsamen Erfolge danke zu sagen. Und damit - geht sie wirklich.