Bremen:Edel wie der Rüdesheimer von 1653

Bundesliga 18/19 - Hertha BSC Berlin vs Werder Bremen

Es gibt kein Halten mehr: Claudio Pizarro (rechts) nach seinem Rekordtor in der 96. Minute in Berlin.

(Foto: Fishing4)

Claudio Pizarro rettet Werder in der Nachspielzeit nicht nur das wertvolle Remis bei Hertha BSC Berlin - mit 40 Jahren und 136 Tagen ist der Peruaner nun auch der älteste Torschütze der Bundesliga.

Von Javier Cáceres, Berlin

Bremen ist eine Stadt, die Dinge zu schätzen weiß, an denen längst der Zahn der Zeit nagt. Im Weinkeller unterm Rathaus der Freien Hansestadt lagern Gesöffe, die edel sind und betagt, darunter der älteste Fasswein des Landes, ein Rüdesheimer von 1653. Wie sollte es da überraschen, dass auf den ersten drei Plätzen der Rangliste der ältesten Torschützen der Fußballbundesliga ausnahmslos Spieler von Werder Bremen zu finden sind?

Auf Platz drei: Manfred Burgsmüller, der 39 Jahre und 226 Tage alt war, als er letztmals traf. Auf Platz 2: Mirko Votava, der bei seinem letzten Tor, Jahrgang 1956, bereits 40 Jahre und 121 Tage alt war. Seit Samstag auf Platz 1: Claudio Pizarro, weil er mit 40 Jahren und 136 Tagen bei Hertha BSC in der Nachspielzeit per Freistoß das 1:1 erzielte und eine unabwendbar scheinende Niederlage verhinderte. "Ich bin stolz auf mich", sagte Pizarro und lächelte verschmitzt und vergnügt wie der Bacchus, der im Bremer Ratskeller über die alten Fässer wacht.

Er werde sich bei Votava entschuldigen müssen, sagte Werders Trainer Florian Kohfeldt; der nunmehr als Tor-Methusalem entthronte, frühere Nationalspieler diente dem heutigen Chefcoach als Co-Trainer der U23-Mannschaft. Andererseits: "Einen würdigeren Nachfolger kann man sich nicht wünschen", sagte Kohfeldt.

Dem Coach lagen weitere, ultimative Elogen auf Pizarro auf der Zunge. Doch er verbat sie sich selbst, denn ein paar Spiele hat der Peruaner noch vor sich. Erst wenn Pizarro tatsächlich seine Karriere beenden sollte, werde er "ausschweifen und nur in den schönsten Farben über ihn reden", kündigte Kohfeldt an. Doch wer weiß, ob der Epilog 2019 oder erst 2020 ansteht. Natürlich wurde der Peruaner gefragt, ob er, der Immergrüne unter den Stürmern in Grün-Weiß, womöglich ein Jahr dranhängen werde. "Mein Kopf sagt natürlich ja", sagte Pizarro im ZDF. Aber er müsse "jede Woche warten, was der Körper sagt" - und am Ende der Saison sehen, was Werder wolle. Nur: Wird das wirklich eine Frage sein?

Die Beziehung der Werderaner zu Pizarro erinnert immer mehr an "Tante Julia und der Kunstschreiber", den Roman des peruanischen Nobelpreisträgers Mario Vargas Llosa. So wie Tante Julia, die 14 Jahre älter ist als der Ich-Erzähler Varguitas, hat auch Pizarro "eine Art, sich zu geben, die jeden Altersunterschied verwischt" - und eine nach allen gängigen Konventionen unmögliche Liaison zum Faszinosum macht. Denn: Einen 40-jährigen Torjäger zu beschäftigen ist ähnlich exzentrisch wie eine Affäre mit der Tante. "Das Leben ist etwas, das geschieht, während Pizarro in der Bundesliga Tore schießt", schrieb Argentiniens Ex-Nationalspieler Diego Latorre bei Twitter, nachdem er das Tor für einen Sender seiner Heimat kommentiert hatte. Es las sich, als wäre auch er in das Lied eingefallen, das die Werder-Fans bei ihrem bierseligen Abschied aus dem Berliner Olympiastadion auf den Lippen trugen: "Pizarro, o-ho/Pizarro, o-ho-o-ooh..."), und das von mehr als nur erleichterter Freude über den späten 195. Bundesligatreffers des Dekans der Goalgetter getragen war. Es klang nach Liebe und nach Dankbarkeit.

Die Elemente, die bei diesem Treffer zusammenflossen, umschrieb Pizarro mit den Worten Erfahrung, Schlitzohrigkeit und Auge, und es fehlte lediglich in der Aufzählung nur eins: der Begriff Glück. Vor der Ausführung des Freistoßes aus der 96. Minute tauschte er sich mit Kapitän Max Kruse aus und kam mit ihm zum Schluss, dass man versuchen müsse, den Ball aus 18 Metern unter der Mauer hindurchzuschießen. Der Ball flog höher als geplant - und wurde dann von zwei Berliner Abwehrbeinen abgefälscht. Herthas Trainer Pal Dardai lag nicht gar so falsch, als er am Sonntag sagte: "Das war ein richtig schlecht geschossener Freistoß, der reinrutscht". Doch Pizarro scherte das Null. Bemerkenswerter war der Umstand, dass er überhaupt zum Freistoß angetreten war. "Das war nicht abgesprochen", sagte Kohfeldt. Aber die richtige Entscheidung sei es doch gewesen, "am Ende eines irgendwie komischen Spiels", wie der Trainer hinzufügte.

Er hatte Pizarro nach gut einer Stunde eingewechselt, als die Berliner verdient führten. Mittelstürmer Davie Selke hatte nach einem von Spielmacher Ondrej Duda brillant eingeleiteten Konter zum 1:0 (25.) getroffen und zuvor bereits einen Pfostentreffer zu verzeichnen; Duda wiederum traf mit einem atemberaubenden Freistoß die Latte und hatte auch in der zweiten Halbzeit eine Großchance. "Es hätte zur Pause gut 2:0 oder 3:0 stehen können", sagte Kohfeldt - und ging mit seiner Mannschaft hart ins Gericht. Denn dass Werder nie mit Herthas Spiel zurecht gekommen war, lastete er exklusiv seinem Team an.

"In Nürnberg habe ich mich komplett mit (in die Verantwortung für den Punktverlust;d. Red.) reingenommen. Heute nicht, weil die Jungs taktisch nicht das gemacht haben, was wir besprochen haben", sagte Kohfeldt, der auch nicht als Ausrede gelten lassen wollte, dass Schiedsrichter Sören Storks schlechter agierte als Hertha. Storks war mit seiner exzessiv toleranten Linie mitverantwortlich dafür, dass Berlin eine fabulöse, nachgerade italienische Defensive aufziehen konnte, weil er irreguläre Attacken gar nicht oder nur milde ahndete. Vor allem die Straflosigkeit, mit der Herthas Verteidiger Niklas Stark agieren konnte, stieß Kohfeldt auf. "Dass er ohne gelbe Karte vom Platz ging, war einfach ... schlecht", sagte der Trainer und verschluckte ein deutlicheres Wort.

Und dennoch: Es gefiel ihm, dass seine Mannschaft bis zur letzten Sekunde emotional blieb, Zusammenhalt zeigte, arbeitete, in diesem Jahr ungeschlagen blieb: "Das war alles top", sagte Kohfeldt, dessen Team neben Paris St. Germain und Juventus Turin die einzige Mannschaft in Europa ist, die in jedem Pflichtspiel getroffen hat - dank Pizarro, der älter ist als der Wind und immer noch trifft.

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