Brasiliens Trainer Scolari bei der Fußball-WM:Babykopf der Nation

World Cup 2014 - Brazil press conference

Wirkt seine Magie noch für zwei Wochen, hat Brasilien einen WM-Helden: Nationaltrainer Luiz Felipe Scolari.

(Foto: dpa)

Prediger, Zeugwart, Vordenker: Luiz Felipe Scolari, der charismatische Trainer der brasilianischen Nationalmannschaft, spielt ungewöhnlich viele Rollen beim WM-Favoriten. Vor dem Achtelfinale gegen Chile muss er eine schwere Entscheidung treffen.

Von Thomas Kistner, Rio de Janeiro

Wenn er so im Schein- werferlicht sitzt, nachdem seine Jungs eine Schlacht geschlagen haben: Im Trainingsdrillich, Ellbogen auf den Tisch gestützt und das rot gerubbelte Gesicht im massigen Handteller abgelegt, die Stirn zerfurcht und die wasserblauen Augen unter zusammengekniffenen Lidern, wenn er nach ein paar grummelnden Sätzen mit ungefährer Geste nach der Wasserflasche angelt und sich ruckelnd dem nächsten Fragesteller zuwendet - wenn er so inmitten dieser grüngelb ausgeleuchteten WM-Hochglanzbilderwelt sitzt, wirkt Luiz Felipe Scolari nicht wie Felipão, die Hoffnung der Nation.

Eher wie der Zeugwart der Seleção. Manchmal sogar wie Cabeca de Nene, Babykopf; sein Spitzname als Profi. Er bezog sich darauf, wie er den Kopf schüttelte, wenn ihm im Spiel ein Fehler unterlief.

Diese Unbeholfenheit ist nicht gespielt. Scolari, 65, hasst es, im Fokus der Medien zu stehen. Trotzdem täuscht der Eindruck. Felipão ist ein motivierender Redner und großer Selbstdarsteller - in der Kabine, bei seinen Spielern. Da ist nichts übrig vom Bauernsohn aus Rio Grande do Sul, dem tiefen Süden des Landes, wo die aus Norditalien eingewanderte Familie Scolari bis in die Fünfzigerjahre Felder bestellte und das Vieh zusammenhielt.

Dann ist er der Mann, der im Chaos dieses Wahljahres mit landesweiten Protesten, die nun ein kriegerisches Sicherheitsaufgebot in Schach hält, die WM gewinnen und die Schmach von 1950 tilgen muss. Der Mann, der sich beim WM-Finale in zwei Wochen ein Denkmal setzen will, als erster Trainer des modernen Fußballs, der zweimal Weltmeister wurde.

Der zum Vater der Nation aufsteigen will, auf Höhe Pelés, des größten Kickers im Lande. Dann ist Scolari der Prediger, dem die Spieler folgen wie ihrem Sektenführer; so, wie ihn seine Spieler fast immer verehrt haben. Und vor allem ist Scolari ein Chamäleon. Vielleicht macht ihn gerade das zur Idealbesetzung für diesen Job.

Wechselt ein Vater seine Söhne aus?

"Wir sind die Gastgeber", hat er vor WM-Beginn gesagt. "Das Mindeste, was wir tun müssen - das Mindeste! - , ist zu gewinnen." Er schafft es, fast jeden seiner Erwählten stark zu reden, er pflegt eine legendäre Loyalität und schirmt seine Auswahl wie ein Hofhund nach außen ab.

Auch wenn er am Samstag für das Achtelfinale gegen Chile wohl dem Druck der Fakten weichen und seinen Schlüsselspieler opfern muss, Paulinho. Was etwas aufgesetzt klingt für so einen Vorgang, der in anderen Teams ja zum Tagesgeschäft gehört, ist in Felipãos Wagenburg tatsächlich ein Opfergang. Ein Wechsel, das kommt fast nie vor. Wechselt ein Vater seine Söhne aus?

Aber jetzt wird es sein müssen. Nicht, weil ihn die Medien im ganzen Land vor sich hertreiben, Scolari müsse Fernandinho für den ausgelaugten Stammspieler bringen. Sondern weil das auch seine Engsten signalisieren. Der Sportdirektor Carlos Alberto Parreira, der 1994 selbst mit der Seleção Weltmeister geworden ist. Flavio Teixeira, genannt Murtosa, sein technischer Arm und Gefährte seit 1983; klein, kugelig und stets im Schatten, ist er eine Art Sancho Panza des großen Felipe. Und Regina Brandão.

Der Sportpsychologin von der Universität São Paulo vertraut Scolari seit 15 Jahren, sie erstellt ihm die Persönlichkeitsprofile der Spieler. Und womöglich hat auch sie darauf eingewirkt, dass ein weiterer enger Wegbegleiter Scolaris nun erstmals als unzeitgemäß gilt und draußen bleiben muss: Pater Pedro Bauer.

Der Priester ist Scolaris Glücksbringer

Der Priester ist seit 1991 Scolaris Glücksbringer. 2002 musste er sogar seine Wohnung segnen, bevor Felipão zur WM nach Asien aufbrach, um den fünften WM-Titel heimzuholen. Und als Scolari den Erstligaklub Palmeiras trainierte, weilte Bauer vor wichtigen Spielen im Teamquartier und beschwor den Geist der Spieler. Noch bei Scolaris Kurzausflug 2008 zum FC Chelsea stand er als Telefonseelsorger bereit.

Jetzt, im Trainingscamp in Teresopolis, steht er vor verschlossenen Türen. Wie Anselmo Alves, ein weiterer Priester, der die Seleção in den WM-Jahren 2002 bis 2010 betreut hatte. Scolari hat alle Kulthandlungen untersagt. Pater Bauer raunte vor Wochen, er sehe jetzt den "gepanzerten Scolari". Er vermutet, der Verband CBF habe dessen Telefon gesperrt.

Brasiliens Trainer Scolari bei der Fußball-WM: undefined

Regina Brandão hat Scolaris Ohr. Die Psychotherapeutin untersucht seit Ende der Neunzigerjahre die Befindlichkeit der Spieler, lässt sie umfängliche Fragebögen ausfüllen und erklärt dem Coach, wie sich die Gefühlslage des Einzelnen auf dessen Spielform auswirkt. Die Profis notieren beispielsweise auf einer Skala mit lachenden oder stirnrunzelnden Smileys die Intensität, mit der sie auf bestimmte Vorgänge reagieren.

Brandão hat auch Daten der Spieler der Nationalteams Saudi-Arabiens und Portugals erhoben, zwei von mehr als 20 Teams, die Scolari in drei Jahrzehnten gecoacht hat. Brasilianische Spieler, sagte sie vor Monaten der New York Times, hätten eine andere Wahrnehmung als etwa die Portugiesen. "Sie reagieren viel emotionaler als Spieler aus anderen Ländern, im Guten wie im Schlechten." Scolari weiß, er muss damit umgehen können.

Was dann so aussehen kann wie im Juni 2013, in der Nacht vor dem Confed-Cup- Finale. Scolari setzte im Teamhotel in Rio de Janeiro einen Brief an die Spieler auf, gespickt mit Motivationsphrasen ("DU bist der besondere Mensch!") und Esoterischem ("Das Lächeln der Sonne, mit ihren Strahlen der Hoffnung, sagt: Gehe hin und erfülle Deine Reise!"), mit Zitaten von Walt Disney und Martin Luther King. Die zwei Seiten schob er seinen Auserwählten zu später Stunde unter der Hotelzimmertür durch. Das ist der eine Felipão.

Der andere ist der Choleriker, dessen paternalistisches Naturell ihm schon viel Ärger eintrug. Etwa, als er Chiles Diktator Augusto Pinochet lobte: Der habe zwar viel gefoltert, aber auch den Analphabetismus in Chile ausgerottet. Das ist weit weg von dem, was die Landsleute auf der Straße und auch seine Kicker denken. Der Choleriker Scolari ist einer, der sich auch mal Handgreiflichkeiten mit Journalisten und sogar Profis leistet. Bei einem Spiel Portugals gegen Serbien schlug er einen Gegenspieler und wurde für vier Spiele gesperrt.

Als er den Traditionsklub Palmeiras in São Paulo trainierte, schnitten Journalisten heimlich eine Kabinenansprache mit: ein Schwall Schimpfwörter. Einen Gegner nannte er "Hurensohn", die Spieler schalt er, sie wüssten nicht, wie man Tritte und Schläge austeilt und riet ihnen "voll Zorn" ins Spiel zu gehen und sich "die Ohren abzubeißen". Das ist der Scolari, der Stil und Ton seines Leitbildes Carlos Froner pflegt.

Von "Captain Froner", einem Ex-Militär, der Grêmio Porto Alegre trainierte und 1978 in Scolaris Caxias do Sul Zwischenstation gemacht hatte, als Felipão dort spielte. Freunde sagen: "Froner war alles für Scolari." Ein Antreiber in der Kabine, der Gehorsam und Hingabe forderte. Als Froner 2002 starb, wenige Wochen, nachdem Scolari den WM-Titel geholt hatte, weinte der Jünger am Grab des Meisters.

"Werde ich als Trainer je Erfolg haben?"

Zu der Zeit war längst nichts mehr übrig von dem jungen, selbstzweiflerischen Scolari, der 1981, auf seiner ersten Trainerstation bei CSA Maceio nach nur zwei Monaten gefeuert worden war, und der sich in einem Brief an seine Schwester fragte: "Werde ich als Trainer je Erfolg haben?"

Nach dem Triumph 2002 in Japan/Südkorea übernahm Scolari die Auswahl Portugals, bei der EM 2004 im eigenen Land brachte er das Team bis ins Finale, es unterlag Griechenland. Damals baute er ein Team auf um einen jungen Ausnahme- könner, Cristiano Ronaldo, so wie die Seleção heute für und um Neymar herum funktioniert.

Das Vater-Sohn-Verhältnis zu Cristiano Ronaldo war so eng, dass britische Medien Scolari seinerzeit hinter dem Wechsel des Spielers zu Real Madrid witterten. Als er selbst in der Premier League antrat, 2008 beim FC Chelsea, zeigte sich, dass sein Zauber nicht wirkte im Woche-zu-Woche-Geschäft der Premier League. Big Phil verlor wichtige Derbys, nach acht Monaten musste er gehen. Ausgerechnet er fiel dabei auch einer Meuterei seiner Spieler zum Opfer, angeführt von Didier Drogba, dem exzentrischen Klubhelden.

"Mein Hauptkriterium als Trainer ist zu beobachten, welchen Charakter ein Spieler, hat. Hat er keinen, kann er nicht Teil eines Fußballteams sein", sagte Scolari schon 1993 in einem TV-Interview im heimischen Rio Grande. Divenhafte Spieler passen nicht in seine Vision vom Rasen als Schlachtfeld, wo es um Stärke und Disziplin geht. Als er die Seleção 2001 erstmals übernahm, musterte er bald den launischen Superstar Romario aus; der hatte eine Berufung geschwänzt.

Seinen Dauerkritikern im Land wie dem Alt-Star Tostão, die der These anhängen, Brasilien habe neben Siegen auch die Verpflichtung zum jogo bonito, dem schönen Spiel, ruft er schon mal verächtlich zu: "Gehen Sie und schreiben Sie, schreiben Sie Gedichte!"

Einerseits. Andererseits passt sich das Chamäleon mühelos an. Auch den Regeln des Fußballbusiness, wo er als Werbeheld Geld wie Heu einfährt neben den angeblich 4,5 Millionen Euro, die ihm der CBF zahlt. Er hat Immobilien in der Heimatregion, wo er als "Herr von Canoas" gilt, und in Portugal, wo ihm neuerdings die Steuerfahndung auf den Fersen ist.

Und er weiß bei aller Raubeinigkeit mit empfindsamen Kickerseelen umzugehen. Beim WM-Triumph 2002 riet ihm Regina Brandão, ja nie die Stimme zu erheben gegen den scheuen Rivaldo. In der Sitzung vorm Finale gegen Deutschland meldete sich Rivaldo überraschend zu Wort und erklärte, er werde den Ball diesmal sogar dem Rivalen Ronaldo überlassen, falls es nötig sei. Im Endspiel kam es dazu: Rivaldo ließ einen Pass durch die Beine zum besser postierten Ronaldo laufen, der traf zum 2:0. Was Felipãos Stil bestätigte: Was nutzt die beste Taktik, wenn das Teambuilding nicht stimmt?

Am Samstag geht Felipão ins erste seiner vier Endspiele. Der Gaúcho, der vor 40 Jahren Olga Pasinato heiratete, die im Hotel gegenüber der Tankstelle in Canoas lebte, an der er arbeitete. Zwei Söhne, täglich beten sie zur Heiligen Nossa Senhora do Caravaggio. Wirkt Felipãos Magie noch für zwei Wochen, hat Brasilien einen WM-Helden, der keiner Schablone entspricht.

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