Brasiliens Fußballer:Felipãos Rumpeln

Brasilien hat sich trotz der schwächsten Generation seit den Fünfzigerjahren ins Halbfinale gerumpelt. Die drei Säulen von Nationaltrainer Scolari hießen Neymar, Luiz und Silva. Das war ein Glücksspiel mit zu hohen Risiken.

Ein Kommentar von Thomas Kistner

Das Beste vorneweg, aus Sicht der Seleção: Bei keinem anderen WM-Turnier hätte sie es überhaupt in die K.o.-Runde geschafft. Möglich war das Halbfinale nur in Brasilien, dank der Energie, die der Heimatboden und das Heimpublikum vermitteln. Dazu kam die Hilfe der Schiedsrichter, schon der Sieg im Eröffnungsspiel wurde mit einem falschen Elfmeterpfiff lanciert. Brasilien hat im WM-Jahr nicht nur eine schwache Spielergeneration; es ist die schwächste seit den Fünfzigerjahren.

Aber das weiß man Jahre vorher, und es lässt sich hinsteuern auf so ein Ereignis, mit langfristiger Planung. Nur sind Begriffe wie Voraussicht, Planung Fremdwörter in dem Land, dessen Stadien auf den letzten Drücker fertig wurden und wo nun in Belo Horizonte eine Brücke einstürzte, die in tödlicher Eile hingepfuscht war. In Deutschland war es für die WM 2006 gelungen, in kurzer Zeit eine neue Spielergeneration aufzubauen; die schickt sich jetzt an, Weltmeister zu werden, sie hat der Seleção die schlimmste Niederlage ihrer Historie verpasst.

Doch wie soll so ein Aufbau funktionieren in einem halben Kontinent, der in Kernbereichen wie Gesundheit, Bildung, Infrastruktur noch immer ein Entwicklungsland ist? Brasilien hat jetzt eine dazu passende Punktlandung hingelegt: Ins erste Heimat-Turnier seit 1950 schickte es auch erstmals eine Auswahl, der das gelbe Trikot des Rekordweltmeisters viel zu groß war.

Den Fußballansatz vermittelten die Trainerveteranen Felipe Scolari und Carlos Alberto Parreira. Beide Weltmeister, 2002 der eine, 1994 der andere. Beide einem Stil verpflichtet, der auf strikter Disziplin und schlichten taktischen Elementen beruht. Scolari kann ein Team nur führen, wenn es ihm die Dreifaltigkeit aus Guru, Priester und Herbergsvater abnimmt.

Kein Platz für Freigeister

Da ist kein Platz für Freigeister, für ein oder zwei erfahrene, mit allen Usancen der Kickerbranche vertraute Leute wie Ronaldinho, Robinho oder Kaká. Als Kaká vor Tagen im Stadion von São Paulo präsentiert wurde (er ist von seiner Europa-Tournee heimgekehrt), kamen Zigtausende zum Feiern. Niemand käme für Fernandinho, Paulinho, Ramires, Hernanes, Bernard. Aber Charisma, Präsenz auf dem Platz, auch das sind zentrale Faktoren in diesem Spiel.

Felipão, der große Felipe, hat auf Spieler wie Stürmer Fred gebaut, der mit seinem Klub Fluminense aus Brasiliens erster Liga abstieg und lange verletzt war. Er hat Bereitwillige versammelt, die sich so drillen ließen, dass sie noch in der Nacht der historischen Abreibung alle dasselbe plapperten, es klang auswendig gelernt und war identisch mit den Trainerworten in der Pressekonferenz.

Dieses Aufgebot wurde als Funktionsmasse um drei Säulen geknetet: Um Neymar, den einzigen Weltklasse-Kicker, und die eisernen Innenverteidiger Thiago Silva/David Luiz. So rumpelte sich Felipãos Seleção ins Halbfinale. Immerhin.

Aber das Glücksspiel barg ein enormes Risiko: Jeder der drei ist unersetzlich - und in Neymar und Thiago Silva fehlten zwei im Halbfinale. Schnell trat das Kernproblem zutage: Übrig geblieben war ein Torso, das Team kann mit dem Ball nichts anfangen, wenn ihr Sender und Empfänger fehlt: Neymar.

Es zerbröselte wie ein Sandkuchen, als es auf den ersten stabilen Gegner traf, der überdies nicht die lateinamerikanische Passion bediente. Statt ein Ensemble mit Profil und Typen für jede Verlegenheit zu bauen, setzte Scolari alles auf eine Karte. Er hat alles verloren. Er geht in die Geschichte ein. Aber anders, als erhofft.

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