Brasiliens Einzug ins WM-Viertelfinale:Bis beide weinen

Brasiliens Einzug ins WM-Viertelfinale: Der Chef und sein Lieblingsschüler: Brasiliens Trainer Scolari feiert, während Neymar flennt - vor Glück.

Der Chef und sein Lieblingsschüler: Brasiliens Trainer Scolari feiert, während Neymar flennt - vor Glück.

(Foto: AFP)

Glück, Schicksal, Gott - irgendetwas will Brasilien in einem epischen Achtelfinale gegen Chile nicht ausscheiden lassen. Der Gastgeber quält sich im Elfmeterschießen weiter - und merkt, dass die Riesen-Erwartungen einer ganzen Nation gehörig lähmen können. Am Ende sind beide Teams völlig erschöpft.

Von Thomas Hummel, Porto Alegre

Welche Kraft dieses Achtelfinale in Belo Horizonte entfaltete, sah die Fußballwelt bereits nach dem Halbzeitpfiff. Neymar bolzte den Ball wütend Richtung Kabinengang, Fred tätschelte Gegenspieler Gary Medel an der Wange, was dieser als tätlichen Angriff missverstand und kräftig zurückschubste. In den Gängen vor der Kabine artete die Rangelei aus, ein Pressesprecher der Brasilianer soll Chiles Stürmer Mauricio Pinilla mit der Faust geschlagen haben.

Später musste der Notarzt eingreifen, vier Zuschauer im Estádio Mineirão erlitten während der Begegnung eine Herzattacke. Nach Meldungen lokaler Medien verlief immerhin kein Vorfall tödlich, Brasiliens Trainer Felipe Scolari hatte für die Menschen sogleich einen seiner wohlfeilen Ratschläge zu bieten: "Die Leute müssen eben vor der WM zum Arzt gehen und sich untersuchen lassen. Während der WM nützt das nichts mehr."

Brasilien gegen Chile, es war das erste Drama dieser Fußball-Weltmeisterschaft. Ein Spiel, das hin und her wogte wie ein Pendel im Sturm. Mit einem (zurecht) nicht gegebenen Tor für die Gastgeber, mit einem Lattenschuss in der letzten Minute der Nachspielzeit für Chile. Mit dem Nervenkampf vom Elfmeterpunkt, dem die Chilenen noch weniger standhielten als die Brasilianer. Fünf Spieler verschossen, am Ende hieß es 4:3 (1:1, 1:1). Eingerahmt wurde das Ganze von einem emotionalen Publikum, das mit seiner Mannschaft litt. Das ganze Land litt an diesem Samstagnachmittag.

Die Nation fühlte sich an wie ein Blasebalg, der sich während dieses Spiels immer mehr aufblähte, die Nähte spannten bald gewaltig und manche gaben leicht nach. Als dann der letzte Chilene Gonzalo Jara seinen Elfmeter nicht traf, entglitt die Luft mit einem riesengroßen Schrei. Der Blasebalg namens Brasilien hat noch einmal gehalten, lag am Abend aber recht erschöpft auf dem Sofa.

"Das ist ein einzigartiger Moment in unserem Leben", schwärmte Kapitän Thiago Silva. Nicht nur die Verlierer aus Chile weinten teilweise hemmungslos, auch die Sieger konnten ihre Tränen nicht halten. Was wäre das für eine Schmach gewesen, wäre diese Mannschaft tatsächlich im Achtelfinale gescheitert, zwei Wochen vor dem Finale in Rio de Janeiro. Die Folgen wären unabsehbar gewesen, die Begeisterung in Brasilien kann schnell ins Gegenteil umschlagen.

Thiago Silva sagte offen, er habe gebetet, dass er und seine Mitspieler für den Fall einer Niederlage den Schutz Gottes erhielten. David Luiz und Neymar knieten auf dem Spielfeld im Gespräch mit ihrem Allmächtigen. Der Druck, den diese Fußballer aushalten müssen, ist enorm.

Dabei hatten sie gut begonnen. Die erste halbe Stunde war das Beste, das die Seleção bei dieser WM zeigte. Die sonst so aggressiven Chilenen schienen von der Wucht des Ereignisses übermannt, Brasilien hätte mehr als das 1:0 durch David Luiz (18.) nach einer Ecke erzielen können. Doch dann werkelte sich der Gegner kraftvoll in die Partie, kam durch Alexis Sánchez zum Ausgleich (32.) und beherrschte weite Teile der zweiten Halbzeit.

Neymars ungewöhnliche Stärke

Von Neymar war überhaupt nichts mehr zu sehen, was Trainer Scolari nach dem Spiel mit Muskelproblemen erklärte. Er habe einen Schlag bekommen, zur Halbzeit habe der Oberschenkel nicht gut ausgesehen. Scolari schreckte dennoch davor zurück, seinen besten Mann vom Platz zu holen. Dabei war er bis auf einen Kopfball kaum mehr zu sehen. Am Ende zeigte er immerhin seine ungewöhnlich guten Nerven und verwandelte einen Elfmeter.

Der sehr gute Schiedsrichter Howard Webb hatte zuvor ein Tor von Hulk annulliert, weil der den Ball mit dem Oberarm gestoppt hatte. Das sah zwar jeder in der Zeitlupe, dennoch zürnte der Stürmer später gegen den Referee, der ihm zudem einen Elfmeter verweigert habe.

Die Unwägbarkeiten des Fußballs zeigten sich aber gnädig mit dem Gastgeber dieser WM. Der in der Halbzeit rangelnde Panilla knallte den Ball in der 120. Minute an den Querbalken, da fehlten nur Zentimeter, dann wäre das Turnier die Brasilianer los gewesen. Der letzte Elfmeter Chiles führte dann ein seltenes Kunststück vor: Er flog an den Innenpfosten und von dort in einer Kurve um den gegenüberliegenden Pfosten herum ins Toraus. Glück, Schicksal, Gott - irgendwas wollte Brasilien nicht ausscheiden lassen.

Stattdessen scheiterten die Chilenen in ihrer vierten WM-K.-o.-Runde zum vierten Mal am großen Bruder vom südamerikanischen Kontinent. 1962 (Halbfinale), 1998 und 2010 (je Achtelfinale) hatten sie gegen Brasilien verloren, diesmal wieder. Dabei hatte das schlanke Land seine wohl beste Auswahl in seiner Geschichte geschickt, trotz einer fürchterlich schweren Auslosung galt sie als Mitfavorit um den Titel.

"Es ist schwer, so auszuscheiden. Wir haben ein ausgezeichnetes Spiel gemacht. Wir haben gesagt, dass wir alles auf dem Platz geben werden, das haben wir gemacht", sagte Mittelfeldspieler Arturo Vidal, der nach seiner Verletzung am Ende der regulären Spielzeit kraftlos vom Platz gegangen war. Sein Trainer Jorge Sampaoli klagte: "Wir können nicht zufrieden sein, wir sind sehr traurig. 120 Minuten haben wir alles gegeben - auch wenn alle im Stadion gegen uns waren. Wir sind sehr traurig und enttäuscht."

Brasilien hingegen schlief glücklich und vor allem erleichtert ein. Die Seleção ist noch dabei, am Freitag wartet Kolumbien zum Viertelfinale. Bis dahin sind noch ein paar Tage, weshalb Felipe Scolari Erholung anordnete: "Morgen haben die Spieler frei, sie sollen nach Hause gehen und sich erholen." Doch nicht nur die Spieler sollten sich eine Pause gönnen: "Ich möchte auch die Journalisten bitten, morgen nach Hause zu gehen und sich zu erholen, damit wir unsere Ruhe haben. Wir sehen uns am Montag." Ob der Einfluss von Felipão soweit reicht, ist hingegen selbst nach einem solchen Fußballdrama fraglich.

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