Süddeutsche Zeitung

Brasilien vor Spiel um Platz drei:Autopsie einer Niederlage

Panne, Tsunami, Katastrophe: Die Aufarbeitung nach dem WM-Aus von Brasilien verläuft wüst. Luiz Felipe Scolaris Trainerstab wird wohl bald Geschichte sein - doch davor lauert dummerweise im Spiel um Platz drei eine weitere Tretmine.

Von Thomas Kistner, Rio de Janeiro

Am Tag danach beginnt die Autopsie der Niederlage. In den Straßen von Belo Horizonte bis Rio de Janeiro ist die Partystimmung abgeklungen und die Anzahl der Menschen deutlich reduziert, die sich noch in die inoffizielle WM-Uniform kleiden; Shirts und Trikots mit Brasiliens Fußballemblem. Dass Gelb nicht länger die Farbe der Saison ist, hat auch den Palacio do Planalto alarmiert. Am Regierungssitz in Brasília rief Dilma Rousseff hastig die Leitmedien zu sich und legte sicherheitshalber auch im US-Nachrichtenkanal CNN dar, dass sie so eine 1:7-Klatsche "nicht mal in den schlimmsten Albträumen" erwartet habe.

Einige tausend Kilometer südlich, in den Bergen von Teresopolis, zogen derweil Felipão, die Kickerbranche und die nationale Sportpresse in die letzte Schlacht. Das nun von mehr Journalisten als Fans umlagerte Trainingscamp des Nationalverbandes CBF hat sich in eine Festung verwandelt, und Trainer Luiz Felipe Scolari pflegt eine neue Taktik. Im Angesicht landesweiter, nicht nur fachlich motivierter Anfeindungen ist er auf Blockverteidigung umgestiegen; der Coach erschien mit der gesamten technischen Kommission vor der Presse. "Ich wollte allein kommen, aber der Stab hat mich gebeten, dabei zu sein", erklärte er: "Um ein Signal der Unterstützung zu geben, wir sind ein Team, wir gewinnen und wir verlieren zusammen."

Dann aber saßen die Unterstützer - der Assistenz- und der Torwarttrainer, der Teamarzt und der Delegationschef - nur stumm 50 Minuten da mit Trauermienen, die eher die Begräbnisstimmung förderten. Das Wort führten allein Felipão und Sportdirektor Carlos Alberto Parreira, beide ja schon Weltmeister mit der Seleção (2002 bzw. 1994) und nun darum bemüht, dass ihre einst klingenden Namen nicht als Schandflecken in die Annalen eingehen.

Ihre Strategie erinnerte dabei allerdings stark an das kopflose Angriffskonzept im Halbfinale gegen Deutschland, das binnen 29 Minuten in der totalen Kapitulation gemündet hatte. Noch einmal gab Felipão Kostproben seiner bemerkenswerten Sturheit. Er beharrt darauf, alles richtig gemacht zu haben, er würde "alles noch einmal so tun", wenn er die Chance hätte.

Er zog eine fast hymnische Bilanz seiner eineinhalbjährigen Arbeit mit der Seleção und stützte dies auf statistische Daten: "In elf offiziellen Spielen haben wir acht Siege, zwei Remis und eine Niederlage. Das zeigt, wie gut vorbereitet das Team war. Wir hatten ein Spielsystem - alles ist in Ordnung." Ein fabelhafter Gesamteindruck, den nur diese "sechs Minuten" trübten, in denen sein Team eine "generelle Panne" erlitten habe. Aber da sei halt etwas über sie hereingebrochen, das nicht von dieser Fußballwelt ist: ein deutscher Tsunami.

Panne, Tsunami, Katastrophe. Rund um solche rein aufs Resultat bezogene Begriffe wand auch Kollege Parreira seine Girlanden. "Bis auf das Deutschland-Spiel lief alles perfekt", erzählte der sonst für nüchterne Analysen bekannte Stratege und versuchte selbst einen der gefühligen Tricks, die bisher ins Repertoire von Felipão fielen, des nun entzauberten " Chefe" der WM-Nation: Parreira zog ein Papier hervor und las der verdutzten Presse die aufmunternde Mail einer älteren Dame vor, der Felipãos Standhaftigkeit im Sturm der landesweiten Empörung imponiert hat.

Drei Tage noch, dann wird Scolaris Trainerstab Geschichte sein. Dummerweise lauert zuvor im Spiel um Platz drei am Samstag gegen die Niederlande noch eine weitere Tretmine; bis dahin sollte sein Team wieder imstande sein zu siegen. Jene Seleção, die mit mehreren freien Tagen während des Turniers für einen bescheidenen Hauruck-Fußball belohnt worden war und schon vorm Halbfinale, auch das zeigt die Statistik, insgesamt 74 Kilometer weniger gelaufen war als die deutschen Kicker.

Und deren mentaler Zerfall sich schon vor der Schicksalspartie abgezeichnet hatte, als schleichender Prozess: In der K.o.-Runde oszillierte sie nur noch zwischen ekstatischen Hymnengesängen und anderen patriotischen Posen, zuletzt mit dem Trikot des verletzten Neymar vorm Anpfiff des Halbfinales - sowie diversen herzergreifenden Tränenbädern. Nun ist vor dem letzten Spiel noch eine Rechnung zwischen den Trainern offen. Zwei ähnliche Typen, beide mit reichlich Selbstvertrauen gesegnet. Luis van Gaal hatte am Ende der Gruppenphase die Spielterminierung gerügt, die es der Seleção ermögliche, sich den Achtelfinalgegner auszusuchen und seiner Elf aus dem Weg zu gehen. Scolari erwiderte, ohne van Gaals Namen zu nennen: "Wer das sagt, ist dumm oder hat böse Absichten." Nun wird diese Sache noch geklärt - ein paar Kilometer vor den Regierungspforten in Brasília. Frau Rousseff bleibt beim rauschenden WM-Finale nichts erspart. Ihre Berater sind ja nun auch mit der Frage beschäftigt, ob es nicht besser wäre, eine etwas voreilig verkündete Amtshandlung der Präsidentin rückgängig zu machen: Sie werde dem Weltmeister am Sonntag in Rio den Pokal übergeben. Jetzt könnte der Sieger Argentinien heißen, der Erzfeind des nationalen Fußballs droht just im Maracanã-Stadion zu triumphieren - dort, wo es die Seleção bei ihrer Heim-WM nie hingeschafft hat. Nicht nur der Protestlärm dürfte sich dem von Belo Horizonte annähern, falls das als nationales Erweckungserlebnis deklarierte Turnier mit einer letzten Demütigung ausklingt: Dilma, die in Brasiliens Fußballkathedrale Messi den Pokal aushändigt. Scolari wird dann nicht mehr im Amt sein. Der künftige Vizepräsident und neue starke Mann im CBF, Delfim Peixoto, erklärte schon, Felipão werde "nie mehr" Nationaltrainer sein und auch keinen Klub des Landes coachen. "Alles war schlecht", wütete der Funktionär aus Santa Catarina, "er hat Geld, er soll sich zur Ruhe setzen. Er ist eine Schande!" Scolaris Konter: Peixoto möge vor ihm "niederknien". Er, Felipão, sei es gewesen, der 1991 mit Santa Catarina den einzigen Titel dieses Klubs gewann.

Vorsichtiger registriert er die Vorwürfe aus der Kickerszene. Dass sich Romario nach Wochen des Schweigens zurückmeldet und Gefängnisstrafen fürs Spitzenpersonal des CBF forderte, muss ihn nicht beunruhigen. Der ehemalige Weltmeister bezieht das auf die allfällige Korruption in und rund um diesen Verband. Schwerer ins Gewicht fällt die wüste Attacke von Wagner Ribeiro. Er ist einer der wichtigsten Spielerberater und hat viel Einfluss in Neymars Umfeld. Ribeiro attackiert Felipão als "bösartig, eingebildet" und spieltaktisch zurückgeblieben - selbst "auf die Gefahr hin, dass er mich verklagt".

Da ziehen Wolken auf, die auch das Leben danach verdüstern könnten. Neymar selbst gab bisher nur Vages von sich. Er habe mit Scolari telefoniert, heißt es, und sich solidarisch erklärt mit der Niederlage - bei der er nicht dabei war, sondern schmerzlich vermisst wurde. Die Autopsie der Niederlage nimmt Fahrt auf.

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Quelle:
SZ vom 11.07.2014
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