Süddeutsche Zeitung

Brasilien vor der WM:Augen zu und durch

Während sich die brasilianische Elf zielstrebig auf die WM vorbereitet, herrscht im Land Chaos. Nur noch 52 Prozent der Brasilianer stehen hinter dem Turnier. Die Fifa steckt in einem Dilemma.

Von Thomas Kistner

Der Weltverband Fifa drängt und droht und winselt, er pocht auf die Uhr und auf all die unerledigten Dinge im WM-Land Brasilien, 99 Tage vor dem Eröffnungsspiel in der Arena de São Paulo (12. Juni); auch dort wird längst gegen den Uhrzeiger gearbeitet. Brasiliens Fußball indes hat die wirklich wichtigen Themen und Termine im Blick. Also diesen Mittwoch, wenn die Seleção von Nationaltrainer Felipe Scolari ihr letztes für die WM-Kaderauslese relevantes Testspiel gegen Südafrika in Johannesburg austrägt - und vor allem den 7. Mai.

Dann steigt ein Riesenspektakel vor 5000 Gästen im Showpalast Vivo Rio im Zentrum Rio de Janeiros. Scolari wird hier seinen WM-Kader bekanntgeben, die 23 Akteure seines Vertrauens.

Wer zur ersten Garnitur zählt, lässt sich beim Freundschaftsspiel in Südafrika am besten auf der Reservebank ablesen. Dort werden die Innenverteidiger David Luiz und Thiago Silva, der Kapitän, erwartet, während die Kollegen Dante und Dede ein letztes Mal vorspielen dürfen. Aber nicht, um die Platzhirsche aus der Stammformation zu vertreiben, sondern um sich den Job als Zweitbesetzung zu sichern.

Dasselbe gilt für Maicon und Maxwell - hinter den gesetzten Außenverteidigern Dani Alves und Marcelo. Hingegen wird der Münchner Quer- und Wiedereinsteiger Rafinha als krasser Außenseiter gehandelt, obwohl er nun eine Last-Minute-Chance im Soccer-City-Stadion erhält. Gegen hoch motivierte Südafrikaner übrigens, die erstmals nach dem Tod Nelson Mandelas antreten und zu Ehren der nationalen Ikone deren Nummer auf den Trikots tragen wollen: 466/64. In Zelle 466 auf der Gefängnisinsel Robben Island war Mandela ab 1964 eingesperrt gewesen.

Im Mittelfeld der Seleção gilt eine späte WM-Berufung des Senioren-Duos Kaká und Ronaldinho als unwahrscheinlich; sie sind nicht mehr dabei. Und in der Offensive sind neben Neymar (FC Barcelona), dem Hoffnungsträger des ganzen Landes, die Mittelstürmer Fred und Jô gesetzt, zudem Hulk von Zenit Petersburg am rechten Flügel.

Im Falle Freds zeigt sich die Männertreue, die Felipe Scolari gern gegenüber verdienten Spielern pflegt. Der Torjäger hatte zu Brasiliens Triumph beim Confederations Cup 2013 fünf Treffer beigesteuert. Danach versank Fred in einem tiefen Loch, er stieg mit dem Traditionsklub Fluminense Rio de Janeiro sogar aus der ersten Liga ab. Verhindern könnte seine Nominierung trotzdem nur noch eine Verletzung.

So viel Zielstrebigkeit und Planungssicherheit kann sich die Fifa nur wünschen. Stattdessen nehmen jetzt die Dinge ihren Lauf, was immer noch passieren mag im WM-Land. Ein Heer aus 170 000 Militärs und Polizisten stellt die Regierung mit Hilfe französischer Polizeiexperten für den Vorstadt-Nahkampf auf die Beine; konservativen Politikern in Brasilia erscheint die Gelegenheit günstig, gleich auch die Anti-Terror-Gesetzgebung im Lande zu verschärfen. Der Fifa dürfte derlei Recht sein, sie schlägt sich mit ganz anderen Problemen herum. Da ist der wachsende Widerstand an manchen WM-Austragungsorten, die vereinbarten Fan-Feste mit Großleinwänden auf öffentlichen Plätzen zu veranstalten.

Einige Kommunen, vorneweg Recife, scheuen die zusätzlichen Millionenausgaben aus öffentlichen Mitteln - 2014 ist Wahljahr. Und sie führen gewichtige Argumente ins Feld: Geben nicht gerade Fan-Feste höchst attraktive Ziele ab für Demonstranten und Chaoten, die gegen WM und hohe Staatsausgaben rebellieren?

Es ist ein Dilemma für die Fifa: Das Gros der Menschen im Lande kann sich die teuren WM-Tickets nicht leisten, da wäre ein Zugehörigkeitsgefühl über Straßenfeste mit kostenlosem Public Viewing nicht schlecht, das könnte einigen Druck aus dem Kessel nehmen. Auch der Fifa dürfte der Stimmungsumschwung im WM-Land nach jüngsten Erhebungen nicht entgangen sein: Nur noch 52 Prozent der Brasilianer stehen laut Institut Datafolha hinter der WM; gestiegen sei die Zahl der WM-Gegner von anfänglich zehn auf den Höchststand von 38 Prozent.

So fügt sich ein Problem ins andere. Hatte Fifa-Generalsekretär Jerome Valcke am Wochenende tapfer bemerkt, die WM-Stadien würden irgendwie rechtzeitig fertig, auch wenn die IT-Ausstattung dort etwas zu kurz kommen könnte - aus mindestens vier WM-Stadien könnte derzeit angeblich gar nicht gesendet werden -, so traf gleich der nächste Mängelbericht in Zürich ein: Just im fertigen WM-Stadion Mineirão in Belo Horizonte riss ein Sturm Metallteile aus dem Dach, die auf den Zuschauerrängen und dem Rasen landeten - Stunden vor einem Meisterschafsspiel.

Augen zu und durch, heißt offenkundig die Devise - Alternativen gibt es ja keine mehr. Und so steuert, während Fifa-Chef Sepp Blatter in seiner jüngsten Grußadresse das angehende WM-Volk auf "Leuchtfeuer" und "Friedenstauben" zum Turnieranstoß vorbereitete, auch Staatspräsidentin Dilma Rousseff ihren Teil zur Beruhigung bei: "Wir garantieren die Sicherheit von Bürgern und Besuchern. Falls nötig, mobilisieren wir die Streitkräfte."

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SZ vom 05.03.2014
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