Brasilien vor der Fußball-WM:"Diese WM ist bereits gescheitert"

Brasilien vor der Fußball-WM: Fußball statt Essen: Graffiti mit einem hungernden Kind an einer Schule in São Paulo

Fußball statt Essen: Graffiti mit einem hungernden Kind an einer Schule in São Paulo

(Foto: AFP)

Die Brasilianer wollen sich auf ein großes Fußballfest freuen. Wäre da nicht der Ärger über alles, was mit dem Großereignis zusammenhängt. Man muss Glück haben, jemanden zu treffen, der sich ausdrücklich auf die WM freut. Und manches erinnert an die argentinische Diktatur-WM 1978.

Von Peter Burghardt, Rio de Janeiro

Der Demonstrant sitzt in einer Kneipe in Rio de Janeiro und kann es selbst kaum glauben. Vor Fußball-Weltmeisterschaften war so eine Bar im Feierviertel Lapa stets lange vor dem Anpfiff mit Fahnen geschmückt, und Straßen wurden bemalt. Und jetzt, zehn Tage vor der WM in Brasilien?

"Nichts", sagt Gustavo Mehl von der Bürgerinitiative wider WM und Olympia, "schau' dich um. Es ist der Wahnsinn." Nur auf dem Flachbildschirm an der Wand sind gelegentlich bunt gekleidete Spieler und Fans zu sehen, weil der Mediengigant Globo zwischen Protestnachrichten die WM-Begeisterung zu schüren versucht.

Wer hätte das gedacht? A copa, die WM, schien bis vor einem Jahr das größte Fest der jüngeren Landesgeschichte zu werden. Brasilien und Fußball, was sollte da schiefgehen? Auch der Aktivist Mehl liebt das Spiel, das der brasilianischen Auswahl fünf Sterne für fünf Titel auf dem Trikot beschert hat, mehr als jedem anderen Team.

Aber nun ist die Stimmung miserabel, obwohl am 12. Juni angepfiffen wird. Die geschwungene Standuhr am Strand von Copacabana, kurz vor seinem Tod entworfen von dem Architekturgenie Oscar Niemeyer, zählt die Zeit rückwärts, doch sie steht wie so vieles in dieser grandiosen Stadt zwischen enorm verzögerten Baustellen und indifferenten bis verärgerten Passanten.

Man muss Glück haben, jemanden zu treffen, der sich ausdrücklich auf die WM freut. Laut Umfragen wird das Ereignis nur noch von 48 Prozent der 195 Millionen Brasilianer unterstützt, ein katastrophaler Wert für die Heimat von Pelé, Ronaldo, Neymar. Es gibt sogar ein paar Leute, die ihrer Seleção einen veritablen Reinfall wünschen.

Rar sind die Szenen, die jenseits von Sponsoren-PR und vereinzelter Beflaggung den Eindruck erwecken, dass das größte Sportereignis der Erde im Mutterland der guten Laune unmittelbar bevorsteht. Auch neben dem Maracanã-Stadion, in dem am 13. Juli das große Finale stattfindet, wird noch gewerkelt. Auf dem Wägelchen des Souvenirverkäufers klebt ein Aufruf zum Streik des Sicherheitspersonals, etliche Berufsgruppen gehen gerade für höhere Löhne in den Ausstand.

Auf friedliche Proteste reagiert die Polizei brutal

Fernsehen und Zeitungen füllen sich wieder mit Meldungen von Wutanfällen aller Art, ein Höhepunkt war die Episode mit Pfeil und Bogen. In der vergangenen Woche trugen empörte Ureinwohner traditionellen Federschmuck und Waffen in Richtung des sündteuren Stadions von Brasília, sie erinnerten inmitten einer Tausendschaft von Landlosen friedlich an ihre Rechte. Berittene Militärpolizei versperrte ihnen den Weg, wie üblich mit Tränengas und Knüppeln. Ein indianisches Geschoss traf einen Beamten am Bein, Fotos und Nachricht rasten um die Welt.

Dazu kam die Aufregung, als 70 streikende Lehrer für ein paar Momente den Bus von Brasiliens Team umzingelten. Sie klebten harmlose Zettel an das Fahrzeug, darauf stand das Motto der Bewegung: "Não vai ter copa." Es wird keine WM geben.

Natürlich wird es diese WM geben. Aber 57 000 Soldaten und 100 000 Polizisten sollen den Ärger abwehren, einige Favelas wurden wie im Krieg besetzt. Die Kosten allein dieses Sicherheitsaufwandes: 709 Millionen Reais, 236 Millionen Euro. Besonders geschützt werden ausländische Delegationen, die uniformierten Robocops erinnern eher an die argentinische Diktatur-WM 1978 als an die Wiege der Samba.

Der Fifa-Generalsekretär Jérôme Valcke ortet WM-Fieber, wird jedoch in einem gepanzerten Auto mit Polizeischutz chauffiert. Brasiliens Parlament und Regierung haben den Knebelvertrag des Weltverbandes Fifa abgesegnet. Gustavo Mehl spottet, der Fifa-Präsident Joseph Blatter aus Zürich könne gleich auf einer Karavelle im Hafen einlaufen wie einst die Kolonialmacht Portugal. "Unsere Passion wird massakriert", findet er. "Diese WM ist bereits gescheitert." Andererseits ist die WM bereits ein Erfolg. Ein Erfolg für den neuen Gemeinsinn Brasiliens.

Nur die Reichen sind geblieben

Wortführer wie der Journalist Mehl, 31, wetterten frühzeitig gegen die Kosten von WM 2014 und Olympia 2016. In Brasilien herrschte noch Euphorie über den mittlerweile abgeflauten Wirtschaftsboom, da warnten vereinzelte Widerständler schon davor, dass außer der Fifa hauptsächlich private Unternehmen wie deren Werbepartner und der Baukonzern Odebrecht von den Großereignissen profitieren.

Kurz vor dem Konföderationen-Pokal im Juni 2013 machten dann erst Zehntausende gegen Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr von São Paulo mobil. Militärpolizisten reagierten brutal und schürten den Zorn erst recht. Bald demonstrierten Heerscharen Unzufriedener aus der Mittelschicht auch gegen Korruption, Geldverschwendung, Polizei, Politik, Fifa. "A gigante acordou", heißt es seitdem. Der Riese ist aufgewacht.

Es genügt nicht mehr, dass unter dem früheren Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva Millionen Brasilianer der Armut entkommen waren. Brasilien fragt sich, wozu es zwölf neue oder renovierte WM-Stadien braucht. Weshalb umgerechnet fast drei Milliarden Euro für das Spektakel ausgegeben werden, während neben den Arenen Schulen und Krankenhäuser verfallen und die Preise von Häusern und Wohnungen in absurde Höhen klettern.

Militärpolizei stellt martialisches Equipment zur Schau

Für den Fußball-Freund Mehl symbolisch ist das Maracanã, das früher ein Ort des Volkes war, an dem sich der reiche Süden und der arme Norden von Rio mischten. Nach dem Umbau sitzt auf der Tribüne bei wichtigen Terminen vornehmlich ein hellhäutiges, elitäres Publikum. Bezahlt wurde das privatisierte Heiligtum genauso wie andere Bühnen dieser WM mit Steuergeld.

Zwar sind die Kundgebungen derzeit viel kleiner als vor einem Jahr. Viele Bürger halten sich aus Angst vor Polizisten und Radikalen zurück, manche Vermummte wurden möglicherweise von der Staatsgewalt infiltriert. Aber am Wochenende jagte wieder eine Demo die nächste, zuvor hatte die Militärpolizei in Rio und São Paulo ihr martialisches Equipment ausgestellt.

Wenn die WM losgeht und Brasilien gut spielt, dann wird sicher trotzdem gefeiert. Auch Gustavo Mehl schaut sich die Spiele im Fernsehen an und unterstützt seine Elf. Aber er will zurück auf die Straße und "alle lächerlichen Fifa-Maßnahmen austricksen, die gegen unsere Kultur verstoßen".

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