Brasilien vor dem Confed Cup:Eine Nation in Fußballschuhen

Brazil training

Trainer Scolari (li.) mit Neymar.

(Foto: dpa)

Ein weiser Trainer, zwei Triple-Sieger, viel ungestümes Talent: Brasilien muss sich beim Confed Cup in WM-Form bringen. Doch in der Mannschaft wie auch im ganzen Land läuft noch längst nicht alles rund.

Von Thomas Kistner

Gibt es einen passenderen Ort als Brasília, das geografische Herz des Landes, die Stadt der Zukunft? Unter dem Motto "50 Jahre in fünf" hob Staatspräsident Juscelino Kubitschek hier vor 60 Jahren eine monumentale Retorte aus der rostroten Erde, rastlos und verschwenderisch. Und der Visionär Óscar Niemeyer schuf mit Bauwerken, die den Gesetzen von Statik und Schwerkraft trotzten, Architekturgeschichte.

Schon, weil hier so vieles in der Schwebe ist, empfiehlt sich Brasília für Felipe Scolaris Projekt "Zehn Jahre in einem", das seine Seleçao am Samstag im Stadion Mané Garrincha anstößt. Nur ein Jahr bleibt Brasiliens Fußballauswahl ja noch. Sie muss sich über einen großen Wurf beim Confederation Cup in Form für die WM 2014 bringen - und im Hauruckverfahren den Erneuerungsprozess vollziehen, auf den ihre Fans, die anspruchsvollsten der Welt, seit einem Jahrzehnt warten.

2002 errang die Seleçao ihren fünften und letzten WM-Titel. Damals, beim 2:0 über Deutschland, standen Ronaldo, Ronaldinho und Kollegen im Zenit ihrer Karrieren, danach passierte nicht mehr viel; 2006 und 2010 war im Viertelfinale Endstation. Ronaldo, der WM-Rekordtorschütze, ist heute das Gesicht des Organisationskomitees COL. Und auch Mitstreiter Ronaldinho ist in die Jahre gekommen, was allerdings nicht als Reifung auszulegen ist: Im Mai warf ihn Nationaltrainer Scolari aus dem Kader, nachdem er zu spät und von privaten Umtrieben gezeichnet zum Testspiel gegen Chile (2:2) aufgekreuzt war.

Felipao - der große Felipe, wie sie den WM-Trainer von 2002 nennen - schäumte, wie Monate zuvor, als ihn Rodrigues hinters Licht zu führen versuchte, der einen Seleçao-Termin schwänzte und hoffte, seine Geburtstagsparty in London bleibe unentdeckt. Weil auch Kaká eher alt als der Alte ist, hat Scolari, 64, nun keinen Spielgestalter mehr mit internationaler Erfahrung.

Sturm-Veteran Fred kämpft an vorderster Front, aber auch mit steten Muskelproblemen. Neben Hulk sind die Offensivkräfte Neymar, Lucas und Oscar vielversprechend, aber auch von jugendlicher Sprunghaftigkeit. Neymar, der designierte Nationalheld, darf nach dem Confed Cup zum FC Barcelona wechseln, um sich dort die europäische Spielstrenge anzueignen. Das zeigt die Dramatik: Bisher war ja der Plan, alle WM-Kandidaten im Lande unter enger Beobachtung zu halten.

Im Trainingscamp in Brasília unterstrich Neymar jetzt eine gewisse pennälerhafte Aufgeregtheit im Team. Er selbst trägt statt der Nummer 11 nun die 10, wirre Begründung: "Ich habe Rivaldo, Kaká und Robinho mit der 10 gesehen, Romario mit der 11, Ronaldo mit der 9." Im Grunde sei die Nummer nicht wichtig, dozierte der 21-jährige weiter, der nun trotzdem alles auf die 10 setzt.

Andererseits könnte das auch für neugefundenes Selbstvertrauen sprechen. Beim 3:0-Sieg vergangenen Sonntag über Frankreich will Scolari ja sein Grundgerüst gefunden haben. Stark ist die Defensive um Thiago Silva, in der Luiz Gustavo, anders als beim FC Bayern, viel fester verankert ist als Teamkollege Dante. Dank zweier starker Partien, in denen er als Ball- eroberer herausstach, rückte Luiz Gustavo ins Stammensemble, wo ihn Paulinho unterstützt - auch einer, der nicht mehr lange bei Corinthians spielen dürfte.

Weil aber Paulinho am stärksten hinter den Spitzen ist, bei der Wiedereröffnung des Maracanã-Stadions gegen England erzielte er das fürs nationale Grundbefinden essentielle 2:2, muss Scolari in der Defensive weiter jonglieren. Wer stopft die Löcher: David Luiz vom FC Chelsea oder Fernando, der gerade von Gremio Porto Alegre in die Ukraine wechselte?

Auch auf den Außenbahnen herrscht Handlungsbedarf. Dani Alves, Haudegen vom FC Barcelona, ist mittelprächtig in Form; anders Kollege Marcelo von Real Madrid, der aber ebenfalls klare Offensivstärken hat - beim 3:0 über Frankreich war er der Beste. Scolari indes ist einer, der auf eiserne Frondienste in der Defensive baut: Damit wurde er 2002 ebenso Weltmeister wie sein Sportdirektor, Carlos Alberto Parreira, 1994 bei der WM in den USA.

Auch im Hintergrund liegt einiges im Argen

Zwei lebende Trainerlegenden, ein Legionärstross aus Spanien und England, zwei Triple-Sieger aus München und drumherum viel ungestümes Talent - Brasilien sucht sein WM-Elixier. Und hofft, dass das ganze Land mithilft. Ein Auftaktsieg am Samstag gegen den spät angereisten Asien-Meister Japan ist Pflicht, um nicht danach von den weiteren Gruppengegnern Mexiko und Italien in einen Strudel aus Selbstzweifel gestoßen zu werden, den Fachwelt, Fans und Medien ja seit Jahren nähren.

So kann der Enthusiasmus im Volk auch rasch umschlagen, längst ist der Unwille geweckt gegen die geldstrotzenden Fußballkarawanen, die nun durch den Subkontinent ziehen. Am Freitag protestierten Bürgeraktivisten in zwölf Städten, auch vor Brasílias Stadiontoren, unter dem Motto "Copa pra quem?" (die WM für wen?): Für die Grundrechte, gegen Zwangsumsiedlung und -enteignung im Zuge der Stadionbauten und gegen den gängigen Preiswucher des Weltverbandes Fifa, der Millionen Fans schon als Unwort gilt.

Zudem drohen neue Unwägbarkeiten. Die Qualität der sündteuren Stadien von São Paulo bis Manaus wird debattiert, weil die Dächer von "Fonte Nova" in Salvador und "Engenhão" in Rio Probleme bereiten. In Salvador muss das Plastikdach repariert werden, das unter zu viel Regenwasser kollabierte. Und Engenhão, die 2007 erbaute Olympia-Arena in Rio, wird gar bis Ende 2014 geschlossen, obwohl Erstligist Botafogo dort spielt. Experten warnten letzte Woche, das Dach könne jederzeit einbrechen. Nun ficht die Stadt Rio mit dem Baukonsortium um die Kosten. Auch Botafogo steht vor existenziellen Problemen - der Klub, für den einst Mane Garrincha dribbelte, Namenspatron der Spielstätte in Brasília.

All das geschieht unter den Augen der Staatschefin Dilma Rousseff, die 2010 einen starken Amtsantritt hatte. Sogar Ricardo Teixeira fegte ihre Regierung hinweg, der 20 Jahre lang die Fußballgeschicke des Nationalverbandes CBF gelenkt und Dinger gedreht hatte, die seinen CBF schon 2001 als "Hort der Kriminalität" etikettierten - so befand ein Senatsausschuss.

Als teurer Berater aus dem Exil in Miami steuert Teixira weiter die CBF-Politik über seinen sinistren Nachfolger Jose Maria Marin; Teixeiras Tochter und Schwager führen das COL. Rousseffs Reinigungseifer ist erlahmt, die einstige Rebellin gegen die Militärdiktatur widmet sich ihrer Wiederwahl 2014 und folgt den Empfehlungen der PR-Strategen. Und die planen das Übliche: Eine Dauerparty unter dem Motto "eine Nation in Fußballschuhen", die bis Mitte 2014 anhalten und den problematischen Alltag vergessen machen soll.

Auch deshalb ist Brasília jetzt wieder in dem Ruf, den es Mitte des vergangenen Jahrhunderts hatte: Der Ort, wo Brasiliens Zukunft beginnt.

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