Süddeutsche Zeitung

Brasilien bei der WM:Jetzt tanzen sie erst recht

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Die Brasilianer zelebrieren ihr 4:1 gegen Südkorea - und tanzen danach auch allen Kritikern gekonnt auf der Nase herum, die meinen, die Seleção übertreibe es bei ihren Jubelchoreografien.

Von Martin Schneider, Doha

Nach dem 4:1-Sieg der Brasilianer im WM-Achtelfinale gegen Südkorea ging es sehr viel ums Tanzen, zum Beispiel um den Tauben-Tanz. Der ist ganz einfach, man bildet mit angewinkelten Armen Flügel, dann wird mit der Nase im Rhythmus gepickt. Nicht gerade die hohe Samba-Schule, aber der Spieler Richarlison animierte nach seinem Tor Mitspieler inklusive Nationaltrainer Tite und später im TV-Studio auch Ronaldo, also den echten, den brasilianischen Ronaldo, zur Vogel-Choreografie. Die habe er einst bei einer Band aus Rio de Janeiro entdeckt, hieß es, und Richarlison ist immerhin glaubwürdiger Tauben-Botschafter. Von seinem linken Ellbogen aus guckt ein kleiner Vogel als Tattoo in die Welt.

Vier Tore zelebrierten die Brasilianer gegen Südkorea in der rauschhaftesten Halbzeit dieser WM im Strandfußball-Stil unweit des Meeres, und das schönste schoss Richarlison. Er leitete es selbst ein, dreimal jonglierte er dabei den Ball wie ein Seehund auf der Nase. 45 Minuten lang spielte die Seleção nach dem Motto: Erst austanzen, dann tanzen. Prompt gab es danach den Vorwurf, ob nicht ein bisschen zu viel getanzt wurde, prominent geäußert durch den irischen TV-Experten Roy Keane. Der fand die Einlagen respektlos; "disrespect", blaffte er in die Kamera. Mit seinem Bart sah er aus wie ein wütender Nikolaus.

Tänze als Zeichen der Respektlosigkeit? "Sie dürfen das, sie feiern den Fußball."

Nun wäre anzumerken, dass Keane als Spieler bei seinen Grätschen auch nicht wahnsinnig respektvoll vorgegangen ist, und überhaupt könnte man mal den Einfluss von TV-Experten auf die Deutung eines Fußballspiels hinterfragen. Aber die Anklage war in der Welt - und so reagierten die Brasilianer prompt darauf. "Das Problem hat derjenige, dem es nicht gefällt", sagte Flügelstürmer Raphinha. "Es gibt keine andere Deutung als die Freude über die Tore, die Freude über das Team, die Freude über die Leistung", sagte Trainer Tite. Lucas Paquetá, Torschütze des vierten Tores, kündigte an: "Wir werden weiter Tore schießen und danach tanzen." Die Mannschaft könne "zehn verschiedene Tänze", präzisierte Richarlison. Der Sieger des WM-Turniers absolviert maximal sieben Spiele ...

Es ist übrigens nichts Neues, dass Brasilianer auf dem Fußballfeld tanzen. Neu ist höchstens, dass sie dafür abgemahnt werden. So wurde auch schon Vinicius Junior, Schütze des 1:0 gegen Südkorea, bei Real Madrid für seine Jubeltaktschritte kritisiert, manche sagen: mit rassistischem Unterton. Seitdem tanzt er erst recht. Seung-ho Paik, einziger südkoreanischer Torschütze des Tages, sagte derweil, er habe das Tanzen der Brasilianer gar nicht als Respektlosigkeit empfunden. "Sie dürfen das, sie feiern den Fußball."

Das Ergebnis klingt klarer als der Spielverlauf, doch Brasiliens Torwart Alisson gibt den Türsteher

Seine Mannschaft verabschiedete sich achtbar, hätte schon in der ersten Hälfte während der brasilianischen Zirkusvorstellung zwei Tore schießen können, wenn Torhüter Alisson nicht den Türsteher gegeben hätte. Südkorea spielte auch in der zweiten Halbzeit trotz des deprimierenden 0:4-Zwischenstandes weiter nach vorne und belohnte sich mit dem Ehrentreffer.

Apropos Alisson: Dessen Auswechslung für den nominell dritten Torhüter Weverton wurde vergleichsweise wenig thematisiert, dabei kommen grundlose Torhüterwechsel bei hoher Führung auch nicht gerade als Respektsgeste rüber. Aber Tite hatte schon im dritten Gruppenspiel den zweiten Torhüter und alle Ersatzspieler eingesetzt, weil die Qualifikation für die K.-o-Runde feststand. Es ist seine Form zu zeigen, dass jeder im Kader wichtig ist.

Was von dem Spiel abseits der kuriosen Tanzdebatte bleiben wird, ist der Eindruck einer Mannschaft mit dem wahrscheinlich größten Offensivpotenzial dieses Turniers. Auch Neymar ist wieder dabei, der nach dem ersten Spiel mit einem geschwollenen Knöchel ausgefallen war und diesmal per Elfmeter zum 2:0 traf. Erst wollte Raphinha schießen, doch die Fans forderten die Nummer zehn als Schützen. Raphinha übergab artig den Ball, Neymar verzögerte und verlud den Torwart lässig.

"Wir werden für ihn Weltmeister", sagte Vinicius Junior in Richtung des kranken Pelé

Nach dem Spiel hielten die Brasilianer noch ein großes Transparent mit einem Foto von Pelé in die Kameras auf dem Rasen des Schiffscontainer-Stadions 974. Das soll nach der WM vollständig ab- und woanders wieder aufgebaut werden, angeblich jedenfalls, und als mutmaßlich letzte Aktion erlebte es einen Gruß an den Größten.

Pelé hatte vor dem Spiel über die sozialen Medien angekündigt, das Spiel aus einem Krankenhauszimmer in São Paulo anzusehen. Der 82-Jährige ist an Krebs erkrankt, Meldungen über seinen Gesundheitszustand widersprechen sich, aktuell soll es ihm wieder besser gehen. "Wir werden für ihn Weltmeister", sagte Vinicius Junior, auf dem Weg dorthin wartet nun im Viertelfinale Kroatien. Zum Thema des Abends hatte sich Pelé übrigens schon vor Monaten geäußert. Seine Aussage: "Fußball ist Freude. Er ist ein Tanz."

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