Zum Wesenskern der Telenovela zählt, dass sie der Realitätsflucht des Publikums dient, sie stand damit stets in direkter Konkurrenz mit dem Fußball. In Brasilien hat der Fußball nun sogar gegen die Daily Soap verloren. Weil die letzte Folge der Straßenfegerserie „Renascer“, die am Freitag laufen soll, eine Verlängerung der ursprünglich angedachten Sendezeit bedingt und das Land in einen Schockzustand versetzen wird, der größer ist als jener vom 1:7 gegen Deutschland bei der WM 2014, musste die ehedem ruhmreiche Seleção die Anstoßzeit ihres WM-Qualifikationsspiels gegen Ecuador nach hinten verschieben. Das verfügte der Sender TV Globo, der die Rechte an beiden Events hält.
Anders gesagt: Schauspieler Marcos Palmeira, Protagonist von „Renascer“, ist größer als Vinícius Júnior, dessen Claqueure einst versprochen hatten, er werde – apropos „renascer“, zu Deutsch: „wieder aufleben“ – die Renaissance des brasilianischen Fußballs anführen.
Von wegen! Auch mit Vinícius steht es schlecht um Brasiliens Nationalmannschaft. Man kann das prächtig an der Tabelle der WM-Qualifikationsrunde Südamerikas ablesen. Während „Renascer“ gekonnt Cliffhanger an Cliffhanger reihte, sich Dutzende Werbepartner und Rekordeinschaltquoten sicherte, sank das Rating der Seleção immer weiter ab. Zuletzt verlor Brasilien drei Spiele in der WM-Quali nacheinander und fand sich nach sechs Spieltagen auf dem sechsten Tabellenplatz wieder. Hätte der Weltverband Fifa – der die Verschiebung der Anstoßzeit ebenso guthieß wie der Südamerikaverband Conmebol – das Teilnehmerfeld der WM 2026 nicht so gebläht, dass sich sechs südamerikanische Teams direkt für die Sause in Nordamerika qualifizieren, wäre immerhin Spannung angesagt.
Brasiliens neuer Nationaltrainer orientiert sich stilistisch eher an Atlético Madrid
Stilistisch ist von der Seleção jedenfalls nicht viel zu erwarten. Unter dem seit Januar amtierenden Trainer Dorival Júnior erinnert sie eher an Atlético Madrids Schurkenfußball denn an jogo bonito. Und der Fußball Brasiliens wird nicht dadurch besser, dass Vinícius vielen Fußballanhängern als talentierter Schauspieler gilt, vor allem wenn er gegnerische Strafräume betritt.
Gleichwohl gilt er gerade als aussichtsreicher Kandidat auf den Sieg bei der Wahl zum besten Fußballer der abgelaufenen Saison, dem Ballon d’Or, den die französische Fachzeitschrift France Football vergibt. Erstmals seit 2003 sind weder Lionel Messi noch Cristiano Ronaldo in der engeren Auswahlliste zu finden, wohl aber Mats Hummels, Florian Wirtz, Toni Kroos und Antonio Rüdiger. Selbst wenn Vinícius im Oktober den Ballon d’Or abstauben sollte, er wird in seiner Bedeutung in absehbarer Zukunft nicht an Helden der Vergangenheit reichen. Sein berühmter Landsmann Pelé starb ja voller Stolz darüber, sogar Waffen zum Schweigen gebracht zu haben: Ende der 1960er-Jahre wurde in Nigeria der Biafra-Krieg unterbrochen, damit Pelés FC Santos dort Show-Matches bestreiten konnte. Vinícius und Brasiliens Nationalelf können es derzeit nicht einmal mit einer Seifenopfer aufnehmen.