Brasilien:Die Seleção träumt wieder

Brasilien: Plötzlich wieder brasilianischer Nationalspieler: Diego.

Plötzlich wieder brasilianischer Nationalspieler: Diego.

(Foto: AFP)
  • In den acht Spielen unter dem neuen Nationaltrainer Tite, 55, hat die Seleção acht Siege eingefahren. Brasilien zählt plötzlich wieder zu den WM-Favoriten.
  • Der Trainer habe der Mannschaft wieder eine Identität gegeben, sagt Weltmeister Mazinho.
  • Tite hat keine Scheu, Spieler zu berufen, die kaum jemand auf dem Zettel führt - wenn er nur meint, dass sie seiner Ideologie entsprechen.

Von Javier Cáceres

Im brasilianischen Belo Horizonte sitzt ein längst ergrauter Fußball-Weiser, der seine ganz eigenen Rechnungen aufstellt. Sein Name: Tostão. Alle zwölf Jahre, so behauptet es der Weltmeister von 1970, erlange Brasiliens Fußball seine Reife, und das sei an den größten Fußballer-Generationen abzulesen, die sein Land hervorgebracht habe.

Der ersten Weltmeistermannschaft von 1958 um Pelé und Garrincha folgte das legendäre Team, das 1970 Fußball in Technicolor bot und nach 1962 den dritten Weltpokal nach Brasilien holte. 1982 verzauberten Poeten wie Sócrates, Cerezo und Alemão die Welt, ohne den Titel zu holen, der dann bis 1994 auf sich warten ließ. Und wenn man sich an Ronaldo, Ronaldinho, Cafú und Roberto Carlos erinnere, müsse man auch das Team von 2006 zu den Besten zählen, die je für Brasilien bei einer WM aufliefen, auch wenn sie im Viertelfinale gegen Frankreich ausschieden, sagt Tostão. Allein wegen dieser Periodizität müsse man mit Brasilien als Titelkandidaten für die WM 2018 in Russland rechnen, findet er. Und noch ein Grund spricht zurzeit dafür, Brasilien zu den WM-Favoriten zu zählen: Brasilien ist wieder Brasilien.

Als souveräner Tabellenführer der diabolischen Qualifikationsgruppe Südamerikas kann Brasilien die Tickets für Russland eigentlich schon lösen; ein Sieg gegen Paraguay in der Corinthians-Arena von São Paulo würde Brasiliens Direktqualifikation auch mathematisch sichern. Was für ein Wandel, der einen Namen trägt: Adenor Leonardo Bacchi, genannt: Tite.

Famose Siege gegen Argentinien und Uruguay

Brasiliens Nationaltrainer ist noch kein Jahr im Amt, er löste seinerzeit den früheren Stuttgarter Bundesligaprofi Carlos Dunga ab. Damals lag Brasilien auf dem sechsten Tabellenplatz der Quali und der grantige Dunga mit dem ganzen Land überkreuz. Doch das ist längst vergessen.

In den acht Spielen unter Tite, 55, hat die Seleção acht Siege eingefahren. Das Team kam dabei nicht nur auf 22:2 Tore, sondern auch zu famosen Siegen gegen die kontinentalen Erzrivalen Argentinien (3:0) und Uruguay (4:1). Gegen Argentinien siegte Brasilien im November im Mineirão, der Bühne der 1:7-Schmach gegen Deutschland bei der WM 2014 im eigenen Land, der Erfolg gegen Uruguay wurde im stets gefürchteten Centenario-Stadion von Montevideo erzielt. Und diese Partie erzählte viel von dem Wandel, den Brasilien unter Tite durchlaufen hat.

Denn: Die Brasilianer schoben sich damals 573 Pässe zu - doppelt so viele wie die Uruguayer. Nur 12 Prozent davon wurden unter der Rubrik "lange Pässe" verbucht, ein Indiz dafür, dass unter Tite das Kurzpass-Spiel wieder auflebt. Der Ballbesitz lag bei 70 Prozent. "Tite hat unserer Mannschaft wieder eine Identität gegeben", sagt Mazinho, Vater des Bayern-Profis Thiago und brasilianischer Weltmeister 1994, in sein Handy. "Sie spielt frei von Angst und hat den Respekt wieder hergestellt, den Brasiliens Gegner verloren hatten. Dank der Struktur und Organisation, die Tite ihr verliehen hat."

Auch der Ex-Bremer Diego steht wieder im Kader

Die Ernennung Tites war in Brasilien von einem selten breiten Konsens getragen, er gilt schon länger als einer der gelehrigsten unter Brasiliens Trainern. Seine größten Erfolge feierte er als Coach von Corinthians São Paulo, 2012 holte er unter anderem die Klub-WM gegen den FC Chelsea.

Als sich Brasilien nach dem WM-Fiasko von 2014 fragte, ob man den Sprung in die Fußball-Moderne verpasst hatte, begab sich Tite nach Europa, um bei renommierten Kollegen wie dem heutigen Bayern-Trainer Carlo Ancelotti den jüngsten Stand der Technik zu lernen. Nun bringt Tite das Talent, das Brasilien nie verloren hatte, aber unter technokratischen Trainern wie Dunga oder seinem Vorgänger Scolari lange verbarg, wieder zum Vorschein.

Stürmer Neymar Jr. spielt mit fast noch größerer Leichtigkeit als zuletzt beim FC Barcelona; zudem harmoniert er mit seinem Jugendfreund Coutinho (FC Liverpool) nachgerade brillant. Und Tite hat keine Scheu, Spieler zu berufen, die kaum jemand auf dem Zettel führt - wenn er nur meint, dass sie seiner Ideologie entsprechen. Im aktuellen Aufgebot stehen der eigentlich ausgemusterte Diego, der seine beste Zeit vor Jahren bei Werder Bremen erlebte, und gleich drei Profis aus der chinesischen Liga. Der Dank: Beim 4:1 gegen Uruguay schoss einer von ihnen, Paulinho von Guangzhou Evergrande, drei Treffer.

Auch deshalb träumt Brasilien wieder. Im Parque Villa-Lobos von São Paulo wurde gerade der WM-Pokal ausgestellt, er wurde vom Weltverband Fifa auf Südamerika-Tournee geschickt. Brasiliens Rekordnationalspieler Cafú brachte ihn vorbei, er hatte ihn 2002 nach dem 2:0-Finalsieg gegen Deutschland in Yokohama als bislang letzter Seleção-Kapitän entgegengenommen - und gab sich nun siegesgewiss: "Diese Schönheit wird 2018 wieder nach Hause, nach Brasilien kommen", sagte er.

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