Süddeutsche Zeitung

Brasilien:Wo einst Pelé kickte, steht ein Lazarett

  • Viele brasilianische WM-Stadien von 2014 galten als Monumente der Verschwendung.
  • In der Corona-Krise erfüllen manche nun einen neuen Zweck: als Krankenhaus und Quarantänestation.

Von Thomas Kistner

Auf ersten Blick mag es so aussehen, als wolle Jair Bolsonaro etwas Unterhaltung in das weitgehend unter Quarantäne stehende Brasilien bringen, in ein Land, das ja grundlegende Probleme mit jeder Art von Bewegungseinschränkung hat. Da war etwa diese Pressekonferenz vor zwei Wochen. Bolsonaro sitzt mit einigen der noch gesunden Mitglieder seines ausgedünnten Stabes auf dem Podium - und zieht mit dem Mundschutz eine Show ab, die jedem Loriot-Double zur Ehre gereichen würde. Er rupft und zerrt am weißen Tuch, das mal als Sichtblende über die Augen des fummelnden Präsidenten rutscht, um im nächsten Moment jäh übers Gesicht zu schnalzen, schließlich baumelt es schlaff am rechten Ohr runter. Bloß Mund und Nase, wo der Schutz hingehört, die bedeckt er selten. Die Bilder gingen viral, Bolsonaro löste landesweit eine veritable Lach-Epidemie aus.

In Wirklichkeit ist dies eines der größten Probleme Brasiliens: Der unfreiwillige Clown ist der erste Mann im Staate. In einem Land, in dem er dieselbe Art dämonisch-alberner Auftritte pflegt wie sein Alter Ego in den Vereinigten Staaten, Donald Trump, und das jetzt auch deshalb in eine gewaltige Gesundheitskrise steuert. Für Bolsonaro gibt es das Corona-Virus nicht. Der Populist tut die Pandemie öffentlich als "gripezinha" ab: leichte Grippe.

Also drängte er jüngst darauf, dass die nationalen Fußball-Ligen wieder den Betrieb aufnehmen. Und machte dabei eine, wie er findet, großzügige Konzession: Wegen der Infektionsgefahren könnte man ja darauf achten, dass nur zehn Prozent der eigentlich vorgesehenen Zuschauerkapazitäten in die Stadien gelassen werden.

Die Weltstädte São Paulo und Rio de Janeiro sind Brennpunkte der Pandemie

Auf diesen Vorstoß haben das Gros der 20 Erstliga-Klubs und die meisten Regionalpolitiker gar nicht mehr reagiert. Zu düster ist das Szenario; Fachstudien wie die zu "Globalen Auswirkungen von Covid-19 und Strategien zur Eindämmung" des Imperial College in London prognostizieren bis zu 1,1 Millionen Todesfälle in Brasilien, wenn nicht schleunigst Vorkehrungen getroffen werden. Und so haben, während der Präsident spielen will, gewissenhaftere Amtsträger eine sinnvolle Verwendung für die legendenträchtigen Sport-Arenen gefunden. Gerade werden die ersten in Lazarette umfunktioniert, speziell an den Brennpunkten der Pandemie: In den Weltstädten São Paulo und Rio de Janeiro, in der nordöstlichen Küstenmetropole Fortaleza und in der Hauptstadt Brasília. Vor Bolsonaros Haustür. Aber das kann nicht mal der Mann hinter der Sichtblende verhindern: Wie in den USA liegt im fünftgrößten Land der Welt die Kernzuständigkeit für Seuchenbekämpfung bei Gouverneuren und Präfekten der Bundesstaaten.

Brasiliens Gesundheitssystem ist miserabel gerüstet für die Krise, es mangelt vor allem an der Intensiv-Ausstattung. Nun verwandelt sich das Estádio Nacional Mané Garrincha in Brasília in eine provisorische Betreuungseinrichtung. Gebaut wurde die gewaltige, fast eine halbe Milliarde Euro teure Schüssel mit einem Fassungsvermögen von 70 000 Zuschauern für die Weltmeisterschaft 2014, auch bei den Sommerspielen 2016 wurde dort je ein Viertelfinale des olympischen Fußballturniers der Frauen und Männer ausgetragen. Doch im Alltag kicken nur unterklassige Klubs der Region in der Garrincha-Arena. Alle seinerzeit vorgeschobenen Planspiele, neben Spitzenpartien der obersten Liga auch regelmäßig die Superstars der Pop- und Rock-Welt zu Open-Air-Konzerten nach Brasília zu locken, wurden nie seriös verfolgt. Aber jetzt kommt diesem Monument einer anderen nationalen Sportart, der Verschwendung öffentlicher Mittel, eine ungeahnte Bedeutung zu.

So wie dem Estádio do Pacaembu in São Paulo. Auf dem Geläuf, auf dem einst Pelé, die größte nationale Fußball-Ikone, für den FC Santos einen Großteil seiner mehr als tausend Tore inklusive des letzten im Ligabetrieb schoss, steht nun ein weißes Zeltdorf. Das Notlazarett mit 202 Betten und einer Quarantänestation sollte am Dienstag in Betrieb genommen werden, als Auffangposten für weniger gravierende Fälle. Nur zehn Tage hatten die Aufbauarbeiten in Anspruch genommen.

In den Umkleideräumen wird eine Apotheke installiert

Weniger flott geht es in Rio voran, wo gleich der gesamte Maracanã-Komplex inklusive Leichtathletik-Parcours und Wasserpark zur Verfügung steht. Darin eingebettet liegt das wohl berühmteste Stadion der Welt, das unter anderem die beiden WM-Endspiele 1950 und 2014 beherbergt hat und natürlich auch die olympischen Frauen- und Männer-Finals 2016. Wo genau das provisorische Krankenhaus installiert werden und wie viele Betten zur Verfügung stehen sollen, wird noch abgeklärt.

In Fortaleza, dessen herrliche Strände seit dem 20. März verwaist sind, lässt Bürgermeister Roberto Claudio ein Lazarett im Presidente-Vargas-Stadion einrichten. Der Bundesstaat Ceará beklagt einige hundert Fälle, der Präfekt selbst hat sich angesteckt. Das neue Provisorium soll 204 Betten haben, aufgeteilt in 17 Stationen, und am 20. April in Betrieb gehen. Die Internierungsbetten sollen bei Bedarf auf Intensiv-Standard samt Beatmungsgeräten hochgerüstet werden; in den Umkleideräumen wird eine Apotheke installiert.

Das Gros der Politiker, der Justiz und sogar der halbseidenen Fußballpatrone hat die tödliche Gefahr erkannt und stemmt sich dagegen. Da mag der Clown in Brasília, dessen Desinformationskampagne "Brasilien darf nicht stillstehen" jüngst sogar gerichtlich verboten werden musste, gerne bald auch mal seine Atemschutzmaske verschlucken.

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SZ vom 01.04.2020/tbr
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