Süddeutsche Zeitung

Brasilien beim Confed Cup:Sogar die Torpfosten wurden verbrannt

Seit dem verlorenen WM-Finale 1950 gegen Uruguay fürchtet sich die Fußball-Großmacht Brasilien vor den Pampa-Kickern aus dem Süden. Die Protagonisten von damals werden gemieden, als seien sie von Dämonen besessen.

Von Thomas Kistner, Rio de Janeiro

Es scheint nur eine Formalität zu sein, wenn sie am Mittwoch in Belo Horizonte aufeinandertreffen: Brasiliens strahlend auferstandene Seleção - und eine Horde überwiegend namenloser Gauchos aus Uruguay. Ungeduldig schaut die Presse voraus auf nächsten Sonntag, wenn in Rios Maracanã -Stadion der Sieger dieser Mini-WM (alias: Confed Cup) ermittelt wird: Brasilien - oder Spanien? Am Ausgang der Halbfinals aber zweifelt die Fachwelt nicht. Der Welt- und Europameister wird Italien abfertigen und die Seleção kurzen Prozess mit dem kleinen Nachbarn im Süden machen, mit Uruguay.

Nur: Was passiert, wenn das zwischen Protest und patriotischer Euphorie oszillierende Land eiskalt erwischt wird? Bei diesem ersten, wenn auch kleinen Weltturnier im eigenen Land seit 1950? War damals nicht was mit Uruguay?

"Gol do Uruguai!" Es wird diese drei Worte immer geben, die alles Unglück Brasiliens beschreiben, eine unheilbare Wunde, die selbst von sonst ernstzunehmenden Schriftstellern des Landes wie dem Theaterschreiber Nelson Rodrigues mit der Bedeutung Hiroshimas für Japan verglichen wurde. Gol do Uruguai! - Tor für Uruguay.

Sechsmal hat Luiz Mendes diesen Satz rausgepresst, in tonloser Verzweiflung. Mendes arbeitete bei der WM 1950 für den Sender Radio Globo, er wurde mit diesen Sätzen zum Herbert Zimmermann Brasiliens. Nur dass Mendes' Spielreportage keinen nationalen WM-Triumph beschrieb, sondern einen Schlag, der eine ganze Nation niederstreckte. So, wie sich vier Jahre später die Helden von Bern in ihrer Heimat unsterblich machten, sollte es den Beteiligten an jener Niederlage, dem 1:2 gegen Uruguay im WM-Finale 1950, nie gelingen, ihr Trauma zu überwinden. Auch die gut 200 000 Zuschauer ließen das kollektive Schockerlebnis nicht hinter sich. Ein Zehntel der damaligen Bevölkerung Rio de Janeiros war auf den Beinen, um den in voreilig gedruckten Zeitungen bejubelten Sieg ihrer Seleção mitzuerleben.

Brasilien hatte geführt, Uruguay ausgeglichen, doch auch ein Remis hätte zum Titel gereicht - dieses Endspiel war keines, es war nur die letzte Partie einer Finalrunde mit vier Teams. Und dann stürmte Alcides Ghiggia wie ein Stier über den rechten Flügel und erzielte das Siegtor für die Elf aus der Pampa. Grabesstille senkte sich auf Maracanã. Elf Minuten waren noch zu spielen. Doch die Seleção, die ihre Gegner zuvor wie im Rausch weggeputzt hatte, vermochte sich so wenig aus der Agonie zu erheben wie die Anhänger auf den Rängen.

Viele irrten nach dem Abpfiff stundenlang durch die gewaltige Beton-Ellipse, die für die WM gebaut worden war. Alles war bereitet für den Eintritt der 60 Jahre jungen Republik in die moderne Welt - nun hatte sie die historische Chance vertan. Es gab es eine Reihe von Selbstmorden im Land. "Maracanazo", wie die Niederlage südlich der Grenze getauft wurde, ist über all die Jahre eine Obsession geblieben.

Natürlich wurde die nationale Bürde auch schon in der Seleção von Felipe Scolari thematisiert. "Wir haben darüber gesprochen", sagt Abwehrspieler Dante. Denn nichts ist unmöglich: Sollte Uruguay, immerhin aktueller Südamerika-Meister und WM-Halbfinalist in Südafrika 2010, im nächsten Jahr wieder der Gegner sein, und sei es in den K.o.-Runden, könnte sich ein episches Drama wiederholen. "Ich habe schon als Kind von Maracanazo gehört, aber das interessiert mich nicht, es ist vorbei", sagt Mittelfeldmann Oscar. Luiz Gustavo sagt: "Ich schaue nie zurück, immer nach vorne."

Nur: Wie überzeugend sind solche Beteuerungen in einem Land, in dem Umbanda, Candomblé und zig Formen des individuellen Aberglaubens blühen; und wo manche Profiklubs bis heute einen "pai do santos" beschäftigen, also Macumba-Priester oder Santaria-Spirituelle, offiziell als Berater oder Masseur angestellt, die in Wahrheit Kontakt zu den Kräften im Jenseits halten?

So wurden die 90 Minuten Stoff mythischer Erzählungen, befeuerten Gedichte und Bücher; sogar Filme wurden gedreht, die das Grausame nachträglich abwenden sollten, etwa mit kunstvollen Montagen, die Ghiggias Schuss, der ja nur in ein paar verwaschenen Schwarz-Weiß-Bildern existiert, vom Pfosten ins Feld zurückprallen ließ. Bloß: In Wahrheit war er halt drin.

Die laufenden Proteste im Land zeigen gerade die Kraft zu jener dramatischen Selbstanalyse, wie sie auch mit dem Schlusspfiff 1950 einsetzte. Damals aber entwickelte sie sich zur Selbstzerfleischung: Es entstand die Mär vom Mangel an innerer Stärke, von der ewigen Verlierer-Nation, die Suche nach den Schuldigen gebar rassistisch unterlegte Schuldtheorien. Die wurden erst 1958 in Schweden, durch den glanzvollen WM-Triumph der Mannschaft um den jungen Pelé, zertrümmert.

Barbosa aber, dem schwarzen Torwart jener unglückseligen Seleção, der Ghiggias Schuss ins kurze Eck passieren ließ, half das alles nicht. Er blieb bis zu seinem Tod im Jahr 2000 der Sündenbock der Nation. Als er 1993 die Seleção um Dunga und Romário im Trainingscamp in Teresópolis besuchen wollte, wurde ihm der Zutritt verwehrt. Zu groß war die Angst, er könne sie mit seinem Dämon für die anstehende WM 1994 verhexen. Dabei hatte Barbosa alles versucht, sich von Maracanazo zu reinigen. Sogar die hölzernen Pfosten des verfluchten Torgehäuses hatte er sich besorgt und bei einem Grillfest in seinem Garten verbrannt. "Die Höchststrafe in Brasilien ist 30 Jahre", sagte Barbosa einmal. "Nur ich büße mein Leben lang."

Nein, so etwas erwartet niemand, wenn Uruguay wieder aufs Feld läuft. Es wird nicht im Maracanã gespielt, und es geht nur um die Mini-WM. Aber was die Partie entfesseln kann, falls es schief geht, daran gemahnt Alcides Ghiggia, der noch heute vom "Gol do Uruguai" lebt. Bei jedem Duell der Nachbarn bestürmt ihn die Presse an seinem Alterssitz in Montevideo, er kassiert 500 Dollar pro Interview. Nach 63 Jahren sind das respektable Tantiemen.

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SZ vom 26.06.2013/ebc
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