Brasilien bei der Fußball-WM:Plötzlich der Favorit

  • Brasilien ist bei dieser Fußball-WM die einzige Mannschaft, die nachhaltig überzeugt und nun der Favorit auf den Titel ist.
  • Im Viertelfinale gegen Belgien muss das Team allerdings auf seinen zweitbesten Spieler Casemiro verzichten.
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Von Martin Schneider, Kasan

Es donnerte, als Neymar das Feld betrat. Eine Gewitterfront zog in Tatarstan auf, als die Brasilianer zum Abschlusstraining ins alte Zentralstadion von Kasan marschierten, und wäre jetzt das Jahr 50 vor Christus, könnte man sagen: Die Götter zürnen angesichts des Neymar'schen Schauspiels. Aber das tausendfache Klicken der Spiegelreflexkameras deutete dann doch untrüglich aufs Jahr 2018 hin. Und so sah man einfach Neymar und eine brasilianische Mannschaft im Regen. Genauer gesagt: eine lachende brasilianische Mannschaft im russischen Sturm.

Das Team hatte sich um den Mittelkreis aufgestellt, sie spielten sich den Ball zu und zwei Spieler in der Mitte mussten versuchen, den Ball zu bekommen. Wenn das gelang, musste der, der den schlechten Pass gespielt hatte, selbst in die Mitte. Auch Neymar erwischte es ein paar Mal, das Team johlte, wenn das passierte, er schlug dann die Hände vor den Kopf, ging in die Mitte und jagte dem Ball nach. Als die Übung zu Ende war, ahmte Neymar ein paar affektierte Übersteiger nach, Außenverteidiger Marcelo sagte etwas zu ihm, beide amüsierten sich sehr darüber.

Die Laune bei Brasilien ist vor dem Viertelfinale gegen Belgien offensichtlich super. Sie darf es auch sein. Das Team in kanariengelb ist die einzige Mannschaft, die nachhaltig überzeugt und nun der Favorit auf den Titel ist. Aber in der Debatte um die Schauspieleinlagen ihres besten Spielers geht unter, wie stark sich Brasilien zeigt und wie gut auch Neymar spielt.

Hinten lassen sie nichts durch und vorne funktionieren die Einzelkönner

Eine Stunde vor dem Training, Pressekonferenz in der Arena von Kasan. Brasiliens Trainer Tite (sprich: Chichi) sitzt vorne, neben ihm der Verteidiger Miranda. Der Saal ist völlig überfüllt, als Joachim Löw hier vor dem Korea-Spiel sprach, fand man ohne Probleme noch einen Platz, aber die brasilianische Nationalmannschaft ist global gesehen eine andere Nummer. Ein Journalist will festgestellt haben, dass Tite im Laufe des Turniers immer entspannter wirkt, er habe seit Monaten jede Pressekonferenz verfolgt. Tite setzte an: "Nun, das Auftaktspiel war mein erstes Mal bei einer WM und das erste Mal ist etwas besonderes. Ich kann es nicht vergessen und ihr auch nicht." Lachen im Saal. Aber dass er entspannter geworden sei, das stimme wohl. Das läge hauptsächlich an den Leistungen der Mannschaft.

Brasilien startete mit einem Remis gegen die Schweiz ins Turnier, erkämpfte sich dann einen Sieg in letzter Minute gegen Costa Rica und drei Punkte gegen Serbien. Das Achtelfinale gegen Mexiko war der souveränste K.o.-Sieg - auch dank Tites Taktik und seiner Art mit den Erwartungen der Heimat zu jonglieren.

Zunächst einmal hat Tite, den sie "Professor" nennen, Brasilien auf Defensive getrimmt. In den 25 Spielen vor dem WM-Viertelfinale kassierte Brasilien unglaubliche sechs Gegentore. Und vorne funktionieren die Einzelkönner, vor allem Neymar: Der war gegen Mexiko für beide Tore hauptverantwortlich, schoss das erste selbst, nachdem er es auch eingeleitet hatte, das zweite bereitete er mit einem Sprint vor. Eine Schweizer Zeitung will gestoppt haben, dass er bei dieser WM insgesamt fast 14 Minuten auf dem Boden lag - er ist aber auch der mit Abstand meistgefoulte Spieler dieses Turniers (knapp sechs Fouls pro Spiel, macht bei vier Spielen insgesamt 24 Attacken). Das bringt Brasilien wichtige Standardsituationen und dem Gegner gelbe Karten.

Brasilien lässt sich nicht aus der Ruhe bringen

Das Thema Neymar sorgt für den einzigen Moment, an dem die gute Laune aus Tites Gesicht verfliegt. Er will dazu nichts sagen, weil er weiß, dass nur diese Worte Schlagzeilen machen würden. Also sagt er: "Schauen Sie sich doch mal an, wie er zum Beispiel defensiv arbeitet, wie er den Raum zustellt, wie er mit dem Team arbeitet. Das beschreibt ihn am besten."

Der zweite große Dämon, den Tite bezwingen muss, sind die Erwartungen der Heimat. Vor vier Jahren brach die Mannschaft beim 1:7 gegen Deutschland auch unter der Last der Emotionen zusammen. "Wir brauchen eine Balance, weder Euphorie, noch Depression", sagte Tite in dem Wissen, dass seine Landsleute stets zu einem der Extreme neigen. "Ich habe meinen Spielern schon vor Wochen gesagt: Wir müssen in unser Training vertrauen." Die größte Herausforderung einer Weltmeisterschaft sei die mentale. "Der Druck ist immens", sagte Tite: "Aber ich versuche meinen Spielern immer zu sagen. Schaut nicht hin, hört nicht hin." Er grinste dabei.

Gegen Belgien wird er aber neben den psychologischen Aspekten auch mit der Herausforderung klarkommen müssen, auf seinen vielleicht zweitwichtigsten Spieler verzichten zu müssen. Der defensive Mittelfeldspieler Casemiro kassierte gegen Mexiko seine zweite gelbe Karte und muss nun zuschauen. Casemiro ist der geborene Vorstopper, wie man früher sagte. Bei Real Madrid hält er Toni Kroos und Luca Modric den Rücken frei, er ist der breiteste Türsteher in dieser Mannschaft. Dass er ausgerechnet gegen den Dreizack aus Kevin De Bruyne, Eden Hazard und Romelu Lukaku fehlt, tut Brasilien weh.

Und was sagt Tite dazu? "Wir werden kollektive Antworten gegen Belgien finden." Für Casemiro werde wohl Fernandinho spielen, sagte der Coach, um dann später mit einer Anekdote aus seiner Zeit als Trainer in den Vereinigten Arabischen Emiraten um die Ecke zu kommen. Brasilien, so die Botschaft auf Pressekonferenz und Trainingsplatz, lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Belgien wird es wohl dennoch versuchen.

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