Süddeutsche Zeitung

Spielabbruch bei Brasilien vs Argentinien:Die Abgesandten des Konteradmirals

Ein Ablenkungsmanöver des ultrarechten Präsidenten? Die Angst vor einer Niederlage? Noch kann sich niemand einen Reim darauf machen, weshalb Beamte das Fußballspiel zwischen Brasilien und Argentinien stoppten.

Von Javier Cáceres

Lateinamerikas Profifußball gilt als eine weitgehend bombensichere Angelegenheit. Ob Gewalt auf den Rängen oder vor den Stadien tobte - die Show ging noch stets weiter; im Zweifelsfall wurde sie halt, wie 2018 das Finale der südamerikanischen Champions League, kurzerhand nach Europa verlegt. Schiedsrichter, die von Mitgliedern kolumbianischer Drogenkartelle mit Maschinengewehren bedroht wurden, mussten die ihnen anvertrauten Partien trotzdem anpfeifen.

Auch an Skurrilitäten anderer Natur ist Südamerikas Fußball nahezu unübertroffen, man denke nur an die Pyro-Rakete, die bei einem WM-Qualifikationsspiel Brasiliens im Maracanã von Rio nahe dem chilenischen Torwart Rojas niederging. Rojas lag bald danach blutüberströmt auf dem Rasen; es stellte sich heraus, dass er sich die Verletzung selbst mit einer Rasierklinge beigebracht hatte, Chile wurde auf Jahre hinaus gesperrt.

Doch was sich am Sonntag in Sao Paulo zutrug, hat das Zeug, selbst das in den Schatten zu stellen.

Dass eine Handvoll Beamte der brasilianischen Gesundheitsbehörde Anvisa in der sechsten Minute den Rasen stürmen und das Spitzenspiel der WM-Qualifikation in der Südamerikagruppe zwischen Brasilien und Argentinien wegen angeblicher Verstöße gegen die Corona-Regeln stoppen, das hätte sich nicht mal der verwegendste Autor des magischen Realismus erträumen können.

Der Hintergrund des Einsatzes: Vier argentinische Spieler hatten offenkundig bei ihrer Einreise eine falsche eidesstattliche Versicherung abgegeben. Die England-Profis Emiliano Buendía, Emiliano Martínez (beide Aston Villa), Cristian Romero und Giovani Lo Celso (beide Tottenham Hotspur) hatten angegeben, aus Venezuela eingereist zu sein, wo sie ein anderes Länderspiel bestritten hatten. Sie hatten aber unterschlagen, dass sie sich zuvor noch im Vereinigten Königreich aufgehalten hatten. Großbritannien steht in Brasilien gerade auf der "Roten Liste" der Hochrisiko-Gebiete, Einreisende aus diesen Ländern müssen zwingend für 14 Tage in Quarantäne. So weit, wo übersichtlich.

Der Rest war nun ein bizarres Theater aus wechselseitigen Schuldzuweisungen, diplomatischen Verwicklungen - und Verschwörungstheorien. Denn einen Reim auf das überraschend resolute und spektakuläre Vorgehen der brasilianischen Behörden konnte sich niemand machen.

"Für mich sieht das aus wie eine Inszenierung", raunt Argentiniens Migrationsministerin

Zeugnis boten die Fragen von Argentiniens Nationaltrainer Lionel Scaloni und seines Kapitäns Lionel Messi im Dialog mit den Gesundheitsbeamten; sie wurden von den TV-Kamers eingefangen: "Wir sind seit drei Tagen hier. Warum seid ihr nicht früher gekommen, zum Hotel oder zum Training? Habt ihr abwarten wollen, dass das Spiel beginnt?", fragten sie die Beamten, die, mit Papieren bewaffnet, die betroffenen Spieler festsetzen und außer Landes schaffen wollten (was sie dann auch formell taten, die vier England-Profis gelten offiziell als ausgewiesen).

Die Argentinier beteuern, alle Vorgaben erfüllt zu haben, die brasilianischen Behörden werfen ihnen vor, sich allen Anordnungen widersetzt und zeitweise in der Kabine eingeschlossen zu haben. Aber mit ihren Fragen waren Messi und Scaloni nicht allein: "Für mich sieht das aus wie eine Inszenierung", raunte Argentiniens Migrationsministerin Florencia Carignano. Im Lichte der bisherigen laxen Corona-Politik der Regierung des ultrarechten Staatspräsidenten Jair Bolsonaro ist es schon seltsam, dass plötzlich so hart durchgegriffen wurde.

Erst vor ein paar Wochen richtete Brasilien das Pendant zur hiesigen Europameisterschaft aus, die Copa América. Dass es dabei zuhauf zu Positivfällen kam und dem kolumbianischen Team angelastet wurde, die Covid-Variante "Mu" ins Land geschleppt zu haben, war nachgerade egal. Bolsonaro hat Corona in der Vergangenheit als bessere Grippe abgetan; die offiziellen Statistiken weisen freilich mittlerweile mehr als 580 000 Corona-Tote aus. Warum aber wurde nun offenkundig ein Exempel von der Gesundheitsbehörde Anvisa statuiert, die von einem Konteradmiral der Marine geleitet wird, Antônio Barra Torres, der mit Bolsonaro freundschaftlich verbunden ist?

Eine Theorie besagt, dass Bolsonaro kleinere und größere politische Konflikte für ein paar Tage hinter einem größeren Rauchschleier verschwinden lassen wollte. Er liegt zurzeit mit den höchsten Gerichten des Landes über Kreuz - und hat seine Anhänger für den Dienstag zu Großdemonstrationen in Brasilia und Sao Paulo aufgerufen. Seine Anhänger rief Bolsonaro dazu auf, "Waffen zu kaufen, denn das bewaffnete Volk wird nicht versklavt". Das kam bei Medien und Opposition nicht so gut an.

Hier und da gibt es auch Argentinier, die meinen, dass die Brasilianer nach der Pleite bei der Copa América schlicht Angst hatten, erstmals ein WM-Qualifikationsspiel daheim zu verlieren. Im Gegensatz zu den Argentiniern verzichteten sie auf neun England-Profis, darunter Schlüsselspieler wie Torwart Alisson Becker und Stürmer Roberto Firmino vom FC Liverpool. Argentinien hatte den englischen Arbeitgebern seiner Profis versprochen, sie schon vor dem ausstehenden dritten Spiel der aktuellen Länderspielperiode wieder nach Hause zu schicken. Brasiliens Verband wusch seine Hände jedenfalls in Unschuld. Man sei vom Vorgehen der Behörden "völlig überrascht worden".

Spannend wird nun zu sehen sein, wie das Spiel gewertet wird - und wem der Weltverband Fifa die Schuld für den Abbruch anlastet. Im Schiedsrichterbericht heißt es, das Spiel sei wegen "höherer Gewalt" abgebrochen worden, genauer: "wegen der Invasion des Spielfeldes durch unbefugte Personen". Derlei zu verhindern, obliegt dem Ausrichter einer Partie, also dem brasilianischen Verband. Ein Punktabzug für die Brasilianer, wie ihn argentinische Medien für sicher halten, könnte in einen Rechtsstreit vor einem ordentlichen Gericht münden - es käme dann zur Neuauflage der Kollision zwischen Verbands- und öffentlichem Recht. Vorerst steht zur Debatte, ob Brasilien gegen Peru wie geplant in Recife spielen kann: Die Peruaner argumentieren, die Hygiene-Blase sei am Sonntag von den Anvisa-Beamten zerstört worden. Diese seien unmaskiert aufs Feld gelaufen.

Die Fifa erklärte am Montag, sie bedauere die Vorfälle, Millionen Fans in aller Welt seien um die Gelegenheit gebracht worden, "ein Match zwischen zwei der wichtigsten Fußballnationen der Welt zu genießen". Fifa-Boss Gianni Infantino sprach gar entsetzt von "Chaos". Eine Entscheidung über die Wertung der Partie werde "zu gegebener Zeit" fallen. Wie auch immer sie ausfällt, an der Qualifikation Brasiliens und Argentiniens für die WM 2022 in Katar dürfte sie nichts ändern. Die beiden Großmächte Südamerikas führen die Tabelle souverän an.

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