Brasilianische Nationalmannschaft:Die Angst vor "Maracanazo"

-

Soll die brasilianische Nationalmannschaft zum WM-Titel im eigenen Land führen: Neymar

(Foto: AFP)

Von seiner Mannschaft erwartet ganz Brasilien den WM-Titel, um endlich das Trauma aus dem Jahr 1950 zu überwinden. Die Endspiel-Niederlage in Rio gegen Uruguay berührt das Land bis heute. Nun versucht die Seleção sportlich alles, was in ihrer Macht steht. Manche Klubs beschäftigen sogar Macumba-Priester.

Von Thomas Kistner

Es ist erst zehn Jahre her, da schlief der Hoffnungsträger Brasiliens im ärmlichen Elternhaus in Pão Grande auf der Bettkante, damit sein bester Freund in der Mitte Platz zum Ruhen fand: der Fußball. Heute kickt Neymar da Silva Santos Júnior, 21, für den FC Barcelona, und auf den schmalen Schultern balanciert er - mehr als seine 22 Kollegen im WM-Aufgebot - diesen Druck, der mit jedem Tag im neuen Jahr wachsen und beim Eröffnungsspiel am 12. Juni ein tonnenschweres Ungetüm sein wird.

Eine Last, die sich, wenn alles glatt läuft, bis zum Endspielabend am 13. Juli im Stadion Maracanã in eine Dimension geschraubt hat, die historisch ist: An diesem Tag muss es, bei allen Orishas, ein Triumph werden! Und wenn nicht? Dann wiederholt sich Maracanazo. Das Trauma einer Generation würde unauslöschlich: Maracanazo für immer.

Den Dämonen bekam der Torhüter nicht mehr los

Maracanazo - so heißt die 1:2-Endspielniederlage der Seleção bei der Fußball-WM 1950 im eigenen Land gegen Uruguay, so getauft von den Siegern südlich der Grenze. Für viele Brasilianer blieb diese Niederlage eine Obsession, obwohl das Land später mit fünf Triumphen zum Rekord-Weltmeister wurde. Maracanazo haben sie über die Jahre irgendwo in der Volksseele verbuddelt, weg war das Thema nie: Ein kollektives Schockerlebnis, das ein Zehntel der damaligen Bevölkerung Rio de Janeiros live erfahren hatte. 220 000 Zuschauer waren auf den Beinen, um den in voreilig gedruckten Zeitungen bejubelten Sieg im Maracanã mitzuerleben.

Dann das: Brasilien hatte geführt, Uruguay ausgeglichen. Und plötzlich traf Alcides Ghiggia für die Elf aus der Pampa. Elf Minuten blieben zu spielen, aber die Seleção, die ihre Gegner zuvor wie Laub weggefegt hatte, versank mit den Hunderttausenden auf den Rängen in Agonie. Grabesstille fiel auf Maracanã. Auf die gewaltige Beton-Ellipse, die nur für jene WM gebaut worden war, das größte Stadion der Welt.

Es sollte zum Eingangstor der damals 60 Jahre jungen Republik in die moderne Welt werden - nun war die historische Chance vertan. Selbstmorde gab es im Land; Maracanazo befeuerte Dichter, Schriftsteller, Regisseure. Am härtesten in jener unglückseligen Seleção traf es Torwart Babosa, der galt für das restliche halbe Lebensjahrhundert als verhext und wurde den Dämon Ghiggia nie mehr los.

Sehnsüchtiges Warten auf den Urknall

Siegen müssen: Das ist 2014 die nationale Bürde, die Trainer Felipe Scolari thematisiert hat in seiner Seleção. Im Stillen fürchtet ja jeder eine Wiederholung des Dramas, allen coolen Gebärden zum Trotz. "Ich habe als Kind von Maracanazo gehört, aber das ist vorbei", sagte Mittelfeldspieler Oscar beim Confed Cup im Sommer, den Brasilien gewann. Luiz Gustavo beteuert: "Ich schaue nie zurück, immer nach vorne."

Lippenbekenntnisse in einem Land, in dem Umbanda, Candomblé und zig Formen des privaten Aberglaubens blühen; wo mancher Profiklub heimlich seinen "pai do santos" beschäftigt, einen Macumba-Priester oder Santaria-Spirituellen, angestellt als Berater oder Masseur, der in Wahrheit Kontakt zu den Kräften im Jenseits hält.

Brasilien spielt so vermeintlich federleicht im Heute, dass dem Land die ungeheure Kraft zur Selbsterforschung gar nicht zugetraut wird, die es hat. Diese Selbstanalyse setzte erstmals 1950 ein, sie führte zur Mär vom Mangel an innerer Stärke und in die Selbstzerfleischung. Die Suche nach Schuldigen gebar sogar rassistische Schuldtheorien, die erst 1958, dank des glanzvollen ersten WM-Triumphs der Mannschaft um den jungen Pelé in Schweden, kassiert wurden. Angeblich.

Jetzt zeigt sich diese Urkraft erneut: Bei den Protesten in den Straßen des Landes, die - was völlig unterging - schon beim Confed Cup beinahe zum Turnierabbruch geführt hatten. Wäre das passiert, gäbe es 2014 keine WM in Brasilien und gewiss auch keine Olympischen Spiele 2016 in Rio. Denn wenn sich im Kontext eines globalen Sportevents der halbe Kontinent in Aufruhr versetzen lässt - wie viel leichter ließe sich eine einzige Stadt entzünden?

Die Menschen singen die Nationalhymne in Orkanstärke

Zugleich tut die Seleção sportlich alles, was in ihrer Macht steht. Sie hat sogar zwei Trainer-Ikonen zusammengeführt, die für vergangene WM-Titel stehen: Felipe Scolari, der große Felipão, ist wieder Nationalcoach wie beim letzten Triumph 2002. Ihm assistiert Sportdirektor Carlos Alberto Parreira, der den WM-Sieg 1994 als Trainer verantwortete. Zwei Meister der Turnier-Strategie; sie verstehen sich darauf, die monatelange Kasernierung von 23 Spitzenkickern nicht in Lager-Koller ausarten zu lassen, sondern fürs Team-Building zu nutzen: Zur Destillation einer homogenen Elf und zur Festigung des Wir-Gefühls auch in der zweiten Garnitur. Denn schwelender Unmut unter Bankdrückern, die sich ja nicht selten für besser halten als die Stammformation, ist eines der größten Probleme bei so einem WM-Turnier.

Brasilianische Nationalmannschaft: Die Seleção nach dem Gewinn des Confed Cups

Die Seleção nach dem Gewinn des Confed Cups

(Foto: AFP)

Was es aber nicht braucht für den Titel, sind die schmutzigen Tricks, für die Brasiliens Sportfunktionäre seit jeher standen und immer noch stehen. Es braucht keine nächtlichen Karnevalsumzüge vor gegnerischen Hotels, keine inszenierten Staus bei der Stadionanfahrt oder Schiedsrichter, die mit falschen Pfiffen das Spielglück lenken. Weltmeister werden kann diese Seleção aus eigener Kraft. Weil sie aus den Besten wählt in einem Land, das mehr Talent gebiert als jedes andere. Weltweit laben sie sich ja auch gerne an dem Überfluss der Fußball-Begabungen und bürgern immerzu Brasilianer ein (auch die deutsche Auswahl tat es schon).

Trotz Maracanazo - Brasilien ist titelreif. Weil der Anhang der Seleção im Sommer 2014 rigoros gegen Fifa und Obrigkeit antritt; weil er zugleich aber die Nationalhymne in Orkanstärke singt, wenn das Spiel längst läuft. Weil die Seleção in Neymar das größte Versprechen für die Zukunft hat, und weil Scolari ihr beim Confed Cup eine Seele einhauchte. Wenn alles passt, wird der Subkontinent beben.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: