Boxen:Weltmeister mit Plauze

Anthony Joshua v Andy Ruiz Jr.

Der letzte von vier Niederschlägen: Andrés Ruiz junior schickt den turmhoch favorisierten Anthony Joshua auf die Bretter.

(Foto: Al Bello/AFP)

Drei Runden lang gibt Andrés Ruiz jr. gegen Anthony Joshua den harmlosen Gegenspieler. Dann gelingt dem Amerikaner ein sensationeller K.-o.-Sieg, der das Schwergewichtsboxen durcheinanderwirbelt.

Von Jürgen Schmieder, New York/Los Angeles

Wer Anthony Joshua in diesem Moment in der siebten Runde sah, der wusste, dass es vorbei war. Kein Boxer, der noch gewinnen wird, wendet sich von seinem Gegner ab, guckt zu seinen Trainern und lehnt sich in der Ecke an die Ringseile. Wer kämpfen will, der hebt die Fäuste und sieht dem Ringrichter in die Augen. Joshua stand noch nicht einmal da wie einer, der verlieren wird - sondern wie einer, der bereits verloren hat.

Er lächelte, doch sein Blick war der eines Boxers, der nicht mehr kämpfen kann und will. Ringrichter Mike Griffin sah diesen fatalistischen Blick, er sah die lasche Körperhaltung, und er wusste, dass er diesen Kampf im Madison Square Garden von New York beenden musste. Und so war Andrés Ruiz junior, Spitzname Zerstörer, auf einmal der neue Schwergewichtsweltmeister von drei bedeutenden Verbänden, er ist zudem der erste Schwergewichtsweltmeister aus Mexiko, und zu behaupten, dass dies eine Überraschung ist, wäre in etwa so untertrieben wie die Behauptung, dass Uli Hoeneß nicht gerade besonders diplomatisch daherkommt.

Nein, nun kein Vergleich mit den großen Überraschungen dieses Sports, mit den Siegen von Leon Spinks gegen Muhammad Ali (1978), von Buster Douglas gegen Mike Tyson (1990) oder von Hasim Rahman gegen Lennox Lewis (2001). So ein Vergleich genügt nicht, dafür waren Vorgeschichte, Verlauf und Reaktionen viel zu grotesk. Wenn schon ein Vergleich, dann mit dieser comichaften, cineastischen Überzeichnung dieser Sportart: mit dem ersten Duell zwischen Rocky Balboa und Apollo Creed. Ja, es war wirklich so surreal.

Ruiz hätte ja noch nicht einmal antreten sollen an diesem Abend. Der geplante Gegner Jarrell Miller war bei einer Dopingkontrolle durchgerasselt, also brauchte der Brite Joshua für seinen ersten Kampf in den Vereinigten Staaten einen brauchbaren Ersatz. Dieser Kampf sollte ein Gruß ans amerikanische Publikum sein, ein Vorgeschmack auf gigantische Zahltage und auf wunderbar zu vermarktende Duelle, gegen Deontay Wilder zum Beispiel oder Tyson Fury. Ruiz hatte eine ordentliche Bilanz (33 Siege und eine umstrittene Niederlage), er hatte jedoch nur sechs Wochen für die Vorbereitung, und man tut ihm nicht Unrecht, wenn man behauptet, dass man ihm das angesehen hat: Er kam mit ordentlicher Plauze in den Ring - was umso grotesker wirkte, weil Joshua, angetreten mit einer makellosen Bilanz (22 Siege), darunter ein krachender Erfolg gegen Wladimir Klitschko, so aussieht, als sei sein Körper von Michelangelo gemeißelt worden.

Drei Runden lang gab Ruiz dann auch den zahmen Gegenspieler. In der dritten Runde musste er nach einer satten Rechts-links-Kombination von Joshua zu Boden, und nur ein paar Sekunden nach dem Aufstehen - Ruiz hatte die Fäuste gehoben und dem Ringrichter in die Augen geschaut - zimmerte ihm Joshua eine rechte Gerade derart wuchtig ins Gesicht, dass dieser Kampf hätte vorbei sein müssen. Es hätte zum Drehbuch des Abends gepasst: Sieg durch Knockout in der dritten Runde, ein paar lockere Sprüche von Joshua in Richtung Wilder oder Fury, ab zur Party in einen Club in Manhattan. Allein: Ruiz wollte noch ein bisschen kämpfen. Und nur zehn Sekunden später, da lag plötzlich der verdutzte Joshua im Ringstaub.

In den darauffolgenden Runden wurde klar, wie unfassbar schlecht sich Joshua auf diesen Kampf und Gegner vorbereitet hatte. Er hatte offenbar damit gerechnet, Ruiz ein paar Mal umhauen und dann ins Reich der Träume schicken zu können. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er so richtig würde kämpfen müssen, und er hatte schon gar nicht damit gerechnet, dass er auch würde einstecken müssen. Ruiz, technisch limitiert und nun wahrlich nicht besonders beweglich, prügelte einfach immer weiter auf Joshua ein. Er schickte ihn insgesamt vier Mal zu Boden, und dann kam es zu diesem Moment in der siebten Runde, in dem alles an Joshua andeutete: Ich will nicht mehr kämpfen.

"Ich bin bereit, im Ring zu sterben", hatte Ruiz davor gesagt. Eine schreckliche Boxerfloskel, zudem auch noch ein Zitat aus "Rocky IV", doch waren zwei enge Freunde von Ruiz tatsächlich an den Verletzungen von Boxkämpfen gestorben. Ruiz ist in ärmlichen Verhältnissen an der amerikanisch-mexikanischen Grenze aufgewachsen, er hat sich im wahrsten Sinne des Wortes durchs Leben geboxt. Er wohnt zwar in Kalifornien, doch an einem Ort im Osten, der kaum weiter weg sein könnte von Strand, Meer und Palmen, wie er einmal erzählt hat: "Ich war ein moppeliges Kind, also musste ich immer gegen die älteren Jungs kämpfen. Die vielen Schläge, die ich einstecken musste, haben mich hierhergebracht. Ich habe kämpfen gelernt."

Ruiz, 29, hat gekämpft an diesem Abend. Die Mexikaner behaupten ja ohnehin, dass der wichtigste Muskel eines Boxers nicht in Oberarmen oder Schultern steckt, sondern zwischen den Beinen. "Cojones" sagen sie dazu, wenn einer vorgeblich mit seiner Manneskraft in der Hose überzeugt, und Ruiz fiel am bedeutsamsten Abend seiner Karriere zumindest nicht in sich zusammen. Er wuchs über sich hinaus. "Mama, wir müssen nicht mehr rumkrebsen", sagte er danach im Shirt der Basketballer von den New York Knicks: "Heute beginnt ein neues Leben."

Es beginnt nun auch eine neue Zeitrechnung im Schwergewicht, sämtliche Drehbücher müssen neu verfasst werden. Joshua, 29, hatte zunächst nicht einmal auf einer Rückkampf-Klausel gegen Ruiz bestanden (die sein Management dann doch vereinbarte). Noch in diesem Jahr dürfte es in England zum Rückkampf kommen.

Überhaupt war Joshuas Verhalten nach dem Kampf noch skurriler als seine Leistung im Ring. Er ließ sich lächelnd mit Ruiz ablichten, begründete seine Niederlage lapidar ("Boxen ist nun mal ein harter Sport") und schrieb danach in den sozialen Netzwerken unter ein gemeinsames Foto mit Ruiz: "Das ist Andys Nacht. Gratulation, Champ". Später sagte er: "Diese Niederlage wird Teil meines Vermächtnisses. Ich werde stärker zurückkehren." Auch wenn er in den Katakomben des Madison Square Garden nicht wie einer aussah, der noch besonders gerne kämpft.

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