Boxen:Tyson Fury - der Fremde

FILE PHOTO: Tyson Fury Announces his Retirement from Boxing on Twitter

Die Rolle des bösen Buben hatte der Vater von Schwergewichtsweltmeister Tyson Fury für seinen Sohn bereits vor der Geburt vorgesehen - er benannte ihn nach Mike Tyson, einem früheren Grenzgänger des Boxens.

(Foto: Alex Livesey/getty)

Ist Tyson Fury ernsthaft krank? Ist er verrückt? Oder ist er einfach ein Selbstdarsteller? Annäherung an einen Boxer, der von allen nur gehasst werden will.

Von Benedikt Warmbrunn

In der Nacht, in der er der stärkste Mann der Welt geworden war, stand Tyson Fury irgendwann in einem Kellerraum der Arena in Düsseldorf, er guckte sich um, doch niemand guckte zurück. Eine knappe Stunde zuvor hatte Fury gegen Wladimir Klitschko gewonnen, als erster Mensch seit zehn Jahren, doch nun, kurz vor der Pressekonferenz, erkannte keiner den Mann des Abends, 206 Zentimeter groß, mehr als 110 Kilogramm schwer, über dem grimmigen Bart gerötete Wangen. Langsam schlich Fury in den Raum hinein, da sah ihn schließlich eine Journalistin, sie rief: "Congratulations, champ!" Fury blieb stehen, er sagte leise, fast fistelig: "Thanks." Schüchtern schlich der neue stärkste Mann der Welt vor zum Podium.

Dann gingen die Kameras an.

Die Sportart, in der Tyson Fury an dieser Nacht Ende November in Düsseldorf der neue stärkste Mann der Welt wurde, nennt sich Boxsport, aber diese Bezeichnung ist irreführend. Das Boxen ist nur zum Teil ein Sport. Das Boxen ist Unterhaltung, es ist eine Illusion, es ist vor allem: ein Geschäft. Und in diesem kommen nur die nach oben und an die großen Gelder, die auffallen. Dadurch, dass sie im Ring nicht umfallen, so wie Arthur Abraham, der einmal acht Runden lang mit einem doppelt gebrochenen Kiefer boxte.

Oder dadurch, dass sie einem körperlich brutalen Sport neuen Glanz verleihen, indem sie ihn auch für die Schönen und Reichen interessant machen - und damit erst für das ganz große Geld. Darin war Henry Maske ein Meister, und die Klitschko-Brüder waren Großmeister. Oder die Boxer fallen zumindest neben dem Ring auf, durch laute Sprüche, durch Provokationen, durch extravagantes Benehmen, durch all das, was die Kameras in der ganzen Welt verbreiten. Wenn es danach geht, heißt der stärkste Mann der Welt tatsächlich Tyson Fury.

Der positive Kokain-Test trieb ein Dreivierteljahr der Selbstzerstörung auf die Spitze

In den vergangenen Tagen bestimmte der Brite die Schlagzeilen wie sonst kein anderer Sportler. Am Freitag vor einer Woche wurde ein Brief der Voluntary Anti-Doping Association (Vada) veröffentlicht, die Fury des Kokainkonsums überführt hatte. Es war der nächste Tiefschlag für den Weltmeister; wenige Monate zuvor hatten britische Medien berichtet, dass Fury bereits im Frühjahr 2015 positiv auf das Steroid Nandrolon getestet worden sei - dennoch durfte er gegen Klitschko antreten.

Am Montag kündigte Fury seinen Rücktritt an, begleitet von Beschimpfungen gegen die ganze Branche. Nur wenige Stunden später trat er vom Rücktritt wieder zurück. Am Mittwoch veröffentlichte das Magazin Rolling Stone ein Interview, in dem Fury über seine Depression sprach. Am Donnerstag kam schließlich noch die Meldung, dass Fury von der Vada ein zweites Mal positiv auf Kokain getestet worden war. Den Rückkampf gegen Klitschko hatte Fury schon kurz nach dem ersten Kokain-Test abgesagt, zum zweiten Mal.

All diese Nachrichten waren jedoch nur das letzte Kapitel von einem Dreivierteljahr der Selbstzerstörung, wie es selbst der sich selbst immer wieder zugrunde richtende Boxsport selten erlebt hat. Aus dem schüchternen Mann aus der Nacht von Düsseldorf war endgültig ein Provokateur geworden, der selbst diesen Sport der regelmäßigen Geschmacklosigkeiten immer wieder aufs Neue herausfordert.

Schon vor seinem Sieg gegen Klitschko hatte Fury verstörende Interviews gegeben, er hatte Homosexuelle beleidigt, Frauen, Andersgläubige. Doch nun, nachdem er es eigentlich geschafft hatte, nachdem er Klitschko, den jahrelangen Schwergewichtsweltmeister von drei der vier großen Verbände, bezwungen hatte, hörte er nicht auf. Der WM-Titel war für ihn keine Befreiung. Er bekam nun nur die Bühne, auf der alle zu ihm zurückguckten.

Wer also ist dieser Tyson Fury?

Sein Vater war Bare-Knuckle-Fighter

Die Version, die Fury selbst von sich zeichnet, zuletzt eben im Rolling Stone, ist die eines gebrochenen Mannes. Er sagte: "Ich habe Dämonen in mir, und ich versuche, sie abzuschütteln." Er sagte: "Ich hoffe, dass mich jemand umbringt, bevor ich mich selbst töte. Sonst müsste ich auf Ewigkeit in die Hölle." In dem Interview erzählte Fury auch, dass er sich zurzeit in einem Krankenhaus psychiatrisch behandeln lasse, die Ärzte hätten bei ihm eine bipolare Störung festgestellt.

Doch in der Branche bezweifeln einige, dass Fury die Wahrheit gesagt hat. "Fury zieht den Boxsport in den Schmutz", sagte Wladimir Klitschko wenig mitfühlend der Bild. Henry Maske kritisierte: "Das Boxen rückt wieder in die Schmuddelecke, wo der Sport vor 1990 schon einmal war. Ich hoffe, dass er nicht halb so instabil ist, wie er uns glauben macht."

Dass Fury nicht wirklich krank sei, glaubt auch Erol Ceylan. Der Hamburger Promoter beobachtete Fury im Frühjahr 2015 eine Woche lang, bevor dieser gegen den von Ceylan betreuten Christian Hammer gewann - es war der Kampf, nach dem Fury eine positive Dopingprobe abgegeben hatte. "Ich unterstelle ihm, dass das alles nur Taktik ist", sagt Ceylan, "ich glaube nicht, dass er psychisch labil ist."

Fury, der Dauerbeleidiger, klagt darüber, dass er in England diskriminiert werde

In dieser Woche, sagt Ceylan, habe er einen "sehr freundlichen, sehr zuvorkommenden und ganz und gar nicht dummen Menschen" kennengelernt. Mit der einen Einschränkung: "Sobald die Kamera an war, hat er sich in einen Showman verwandelt, der alle nur beschimpfen wollte." Diesen Hang zur Provokation, glaubt Ceylan, habe Fury in seiner Kindheit entwickelt.

Furys Familie gehört zu den Irish Travellers, einer ethnischen Minderheit, deren Mitglieder früher wie Nomaden lebten; heute bewegen sie sich eher über soziale und kulturelle Grenzen hinweg. Als Irish Traveller, beklagt Fury seit Jahren, sei er oft diskriminiert worden: "Ich empfinde jetzt in 2016 mehr Rassismus als jeder Sklave, jeder Einwanderer im 19. Jahrhundert." Fury ist stolz auf seine Herkunft, er nennt sich Gypsy King, König der Zigeuner. Doch dass er sich gegen die Beleidigungen mit Beleidigungen wehrt, so erklärt sich das Ceylan, habe er sich als Junge angeeignet.

Sein Vater John, ein Bare-Knuckle-Fighter, der mit bloßen Fäusten kämpfte, benannte seinen Sohn nach Mike Tyson, der vor knapp drei Jahrzehnten die Boxszene als Grenzgänger des guten Geschmacks aufmischte. "In seinem Namen steckt ja schon drin, dass er ein Mike Tyson der Neuzeit sein soll", sagt Ceylan, "von Geburt an sollte er ein Bad Boy sein." In seiner Familie wissen sie, dass dieser öffentlicher Fury nur eine Rolle spielt. Seine Frau Paris sagte einmal: "Glaubt ihr, ich wäre noch mit ihm zusammen, wenn er all das denken würde, was er sagt?" Sie gestand aber auch: "Ich weiß auch nicht, was ihn manchmal reitet." Ceylan sagt: "Er gibt nichts dafür, geliebt zu werden. Alles, was er vor den Kameras macht, macht er, um gehasst zu werden."

Ist Fury also nun ernsthaft krank? Ist er ein Mann, der sich selbst einfach nicht unter Kontrolle hat? Oder ist er nur ein Selbstdarsteller, der mit allen spielt, um möglichst viele Tickets zu verkaufen? Fury sagt: Möglichkeit eins. Seine Frau sagt: Möglichkeit zwei. Promoter Erol Ceylan sagt: Möglichkeit drei.

Am 4. November wird Fury wegen seiner positiven Dopingprobe angehört, doch eigentlich geht es nicht darum, ob er noch einmal gegen Klitschko antreten wird, auch nicht darum, ob er seine Karriere überhaupt fortsetzen kann. Es geht jetzt nur darum, ob ein Grenzgänger noch einmal Halt im Leben findet.

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