Süddeutsche Zeitung

Todesfälle im Boxen:Schwer erträgliche Bilder

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Von Benedikt Warmbrunn

Manche Bilder, die der Boxsport erzeugt, sind nur schwer erträglich. Am vergangenen Samstag holte der Ringrichter in einer kleinen Halle in der Nähe von Buenos Aires die Kämpfer zu sich in die Ringmitte, die Urteilsverkündung stand an. Der Ringrichter fasste beide Boxer an den Händen, den Argentinier Hugo Alfredo Santillán an dessen rechter. Dann wurde knapp eine Minute lang das Urteil gesprochen. Es gibt ein Video von dieser Urteilsverkündung, darauf ist zu sehen, wie Santillán immer wieder kurz das Bewusstsein verliert. Sein Kopf kippt nach vorne, irgendwann der gesamte Oberkörper. Nach einer Minute zieht der Ringrichter beide Arme in die Höhe, ein Unentschieden. Santilláns Körper baumelt an der Hand des Ringrichters.

Santillán wurde sofort in eine Ecke gebracht, auf den Boden gelegt, kurzzeitig schien er wieder das Bewusstsein zu erlangen. Ein Arzt brachte eine Sauerstoffmaske, nach fünf Minuten wurde Santillán ins Krankenhaus gebracht. Dort wurde er wegen eines Nierenversagens notoperiert, er fiel ins Koma. Während der Behandlung im Krankenhaus erlitt Santillán drei Herzattacken, eine davon am späten Mittwochabend. Am frühen Donnerstagmorgen erklärten die Ärzte ihn für tot.

Die Bilder von Santilláns letztem Kampf sind auch deshalb schwer erträglich, weil er bereits der zweite tote Boxer innerhalb weniger Tage ist. Am Dienstag war der Russe Maxim Dadaschew gestorben, der nach einem Kampf am Freitag in Maryland/USA notoperiert werden musste und anschließend ins künstliche Koma versetzt wurde; er hatte viele schwere Treffer kassiert, bevor der Kampf gestoppt wurde. Bei Santillán sind die Bilder aber auch schwer erträglich, weil sie von einer Frage überschattet werden: Hätte sein Tod verhindert werden können?

Statt auf auf seinen Trainer zu hören, trennte Santillán sich von ihm

Beim Bund Deutscher Berufsboxer (BDB) sagen sie: ja. "Das ist schockierend", sagte Präsident Thomas Pütz dem Sportinformationsdienst. "Er wäre noch am Leben, wenn man auf uns gehört hätte."

Am 15. Juni hatte Santillán, 23, Rufname Dinamita, in Hamburg geboxt, gegen Artem Harutyunyan. Der Deutsche hatte klar gewonnen, Santillán hatte mehrere schwere Treffer kassiert. Der BDB, der als Dachverband die Veranstaltung begleitete, verhängte eine Schutzsperre bis zum 30. Juli. Zehn Tage vor deren Ende boxte Santillán wieder, obwohl ihm sein Trainer davon abriet. Statt auf ihn zu hören, trennte Santillán sich von ihm. Also kämpfte er gegen Eduardo Javier Abreu, es ging um den Latino-Silver-Titel.

Nach dem Ende der zehnten Runde riss Santillán noch selbst seine Arme in die Höhe. Raúl Quijano, der Santillán im Krankenhaus betreute, erzählte, dass ihm der Vater des Boxers berichtet habe, dass der Sohn beim Abstreifen der Handschuhe gesagt habe: "Ich glaube, ich habe gewonnen." Erst danach brach er zusammen. Im Krankenhaus entdeckten die Ärzte im Gehirn Schwellungen, die so groß waren, dass sie auch die anderen Organe beeinträchtigten.

"Als ich von seinem Tod gehört habe, musste ich erst einmal tief Luft hören", sagt Volker W. Rudi, einer der Ringärzte des BDB, der mehr als 1000 Kämpfe bei den Amateuren sowie mehr als 150 bei den Profis betreut hat. "Ich habe mich gefragt: Warum um Himmels Willen haben sie die Schutzsperre nicht eingehalten?"

Dass allein die Schläge aus dem Kampf gegen Abreu für Santilláns Tod verantwortlich sein könnten, kann sich Rudi nicht vorstellen. Er glaubt, dass die Folgen des Kampfes gegen Harutyunyan nicht verheilt waren, dass ein Blutgefäß im Gehirn geplatzt oder gerissen gewesen sein könnte. Santilláns Tod ist daher ein Beispiel dafür, wie wenig das Profiboxen für Gehirnverletzungen sensibilisiert ist.

Die Athleten werden vor jedem Kampf untersucht, die Lunge wird abgehört, das Herz auf Herz-Rhythmus-Störungen geprüft. Außerdem leuchten die Ringärzte den Boxern mit der Taschenlampe in die Augen, durch den Pupillenreflex wird geprüft, ob es neurologische Auffälligkeiten gibt. Rudi erzählt, dass er deswegen schon Boxer für kampfunfähig erklärt habe. Eine Schädel-Kernspintomographie sieht das Regelwerk nicht vor, die Kosten von in Deutschland mehreren hundert Euro sind Veranstaltern und Boxern zu hoch.

Der Verbandsarzt Rudi, der mit den Fußballern des SV Sandhausen einst untersucht hat, welche Kräfte beim Kopfball auf das Gehirn einwirken, fordert nun zwei Dinge. Die Schutzsperren müssen eingehalten werden. Und: "Fällt ein Boxer nach einem Schlag auf den Hinterkopf, muss ein Kernspin zwingend verpflichtend sein, ohne Ausrede." Denn bei so einem Aufprall sei die Nackenmuskulatur nicht mehr angespannt und der Kopf dadurch besonders empfindlich.

Im hessischen Korbach, erzählt Rudi, habe er einmal einen Boxer aus Berlin betreut, der nach einer Niederlage sofort in die Heimat fahren wollte. Da er auf den Hinterkopf gefallen sei, rief Rudi den Notarzt und schickte den Boxer zur Kernspintomographie. Im Gehirn waren keine Auffälligkeiten zu erkennen, der Athlet durfte nach Hause fahren. Vorsichtig genug, sagt Rudi, könne man bei Boxern aber gar nicht sein.

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Quelle:
SZ vom 27.07.2019
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