Süddeutsche Zeitung

Boxer Saul Álvarez:Zimt ist nicht aus Zucker

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Saúl Álvarez wurde als Kind gehänselt , mittlerweile ist er der über die Gewichtsklassen hinweg beste Boxer der Welt. Auch deshalb, weil er stets gegen die Besten antritt - wie am Samstag gegen Billy Joe Saunders.

Von Jürgen Schmieder und Benedikt Warmbrunn

Cojones. Oder, auf gut Deutsch: Eier. Wer verstehen will, warum Saúl Álvarez, der wegen seiner zimtig-rötlichen Haare und den Sommersprossen von allen nur Canelo genannt wird, derzeit als der über alle Gewichtsklassen hinweg beste Boxer der Welt gilt und wieso das WM-Duell am Samstag in Dallas gegen Billy Joe Saunders von Freunden des Faustgefechts herbeigesehnt wird wie seit Jahren kein Kampf mehr, der sollte sich mit den, so zumindest das Klischee, für mexikanische Kämpfer so bedeutsamen Körperteilen beschäftigen. Cojones stehen für Tapferkeit, Entschlossenheit, Aggressivität; aber sehr häufig auch, und das nicht nur im Profisport, für Ignoranz, Arroganz und Dummheit. Und genau das führt zur bislang einzigen Niederlage von Canelo Álvarez in 58 Profikämpfen.

September 2013, Las Vegas: Álvarez trat an gegen Floyd Mayweather junior; der damals beste Boxer der Welt und mit 36 Jahren auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Álvarez war ein 23 Jahre alter, verheißungsvoller Boxer, der in den Jahren zuvor mehrere namhafte Gegner besiegte hatte; schon damals war klar: Die Zukunft würde ihm gehören. Álvarez jedoch wollte die Gegenwart, den bestmöglichen Mayweather besiegen, zum ersten Mal in dessen Karriere. Álvarez marschierte mutig nach vorne und schlug wild um sich - doch er wird wahrscheinlich niemals so alt werden, wie ihn Mayweather an diesem Abend aussehen ließ. Statistiken erzählen meist nicht die ganze Geschichte eines Kampfes, in diesem Fall aber schon: Álvarez schlug häufiger, doch traf er nur bei jedem fünften Versuch; insgesamt gelangen Mayweather 115 Treffer mehr als Álvarez. Canelo wurde vorgeführt.

"Ich sehe den Kampf nicht mehr als Niederlage, sondern als Lektion", sagte Álvarez kürzlich im Podcast von Mike Tyson; er habe gelernt: Tapferkeit und Aggressivität sind schon wichtig, aber das wichtigste Körperteil eines Boxers ist dann doch der Kopf. Álvarez löste sich vom Klischee über mexikanische Boxer, das besagt, dass die ihre Gegner stets in wilde Prügeleien verwickeln mit dem Ziel, am Ende ein einziges Mal öfter aufzustehen als der andere; der eigene Niederschlag ist quasi eingeplant. Julio César Chavez wurde damit zu einer Legende: Kinn aus Eisen, Eier aus Stahl. Mayweathers Botschaft dagegen: Man landet auch dadurch mehr Treffer als der Gegner, dass man selbst möglichst wenig getroffen wird.

Seine bisher reifste Leistung zeigte Álvarez im vergangenen Dezember

Álvarez, 30, hat einen eigenen Kampfstil entwickelt, er ist, und man sollte diesen Begriff nur selten verwenden: komplett. Er boxt weiterhin konsequent offensiv, wartet also kaum ab, er hat viel Power in seinen Schlägen, gerade in seinen Haken zum Körper. Aber er pendelt auch mit Kopf und Körper, sodass es nun die Gegner sind, die ihre Schläge immer wieder ins Leere fliegen sehen. (Canelos wohl größte Schwäche: Seine Beine sind nicht die allerschnellsten.) Die Strategie passt Álvarez inzwischen von Runde zu Runde neu an, er reagiert auf die Taktik seiner Gegner, und er demonstriert dabei, dass er, der als 15-Jähriger seinen ersten Profikampf bestritten hatte, sich so intelligent im Ring verhält wie nur sehr wenige.

Seine bisher reifste Leistung zeigte Álvarez im vergangenen Dezember gegen das britische Supermittelgewicht Callum Smith. Der war 18 Zentimeter größer, hatte 19 Zentimeter mehr Reichweite, dazu einen der gefährlichsten linken Haken im Profiboxen; in den Kampf ging er als Weltmeister der WBA. Álvarez aber tänzelte, marschierte, wackelte mit Kopf und Oberkörper und war deshalb so schwer zu treffen wie Mayweather einst für ihn; gleichzeitig traf er wahrscheinlich jeden legalen Quadratzentimeter seines Gegners. So schlug er immer wieder mit voller Wucht auf dessen linken Arm und nahm so Smiths Haken die Kraft. Kurz vor Ende des Kampfes deutete Smith selbst auf seinen Arm, es war eine Verneigung vor Canelos Strategie: Du hast mich vorgeführt.

Álvarez' K.-o.-Quote ist seit dem Kampf gegen Mayweather zwar von 71 auf 43 Prozent gesunken, doch war er seitdem kaum noch in ernsthaften Schwierigkeiten - obwohl er durchgehend gegen Gegner aus der ersten Reihe des Boxens antrat. Er boxte 2017 und 2018 gegen Gennady Golowkin, den härtesten Puncher im Mittelgewicht; das Unentschieden im ersten Kampf war vielleicht noch schmeichelhaft für Canelo, im Rückkampf jedoch bewies er seinen Mut: Er stellte Golowkin in der Ringmitte, ließ sich nicht in die Seile treiben, sondern tauschte lieber Schläge aus; und weil er damals schon viel pendelte, gewann er am Ende zwar knapp, aber nicht unverdient. Gleich danach, er war nun der am besten vermarktbare Boxer, unterschrieb er einen Vertrag mit dem Streamingportal Dazn, der ihm alleine für die Rechte in den USA 365 Millionen Dollar für elf Kämpfe garantierte. Im Herbst 2020 einigte er sich nach einem heftigen Rechtsstreit mit dem Streamingdienst und seinem Promoter Golden Boy darauf, diesen Vertrag aufzulösen; der Kampf gegen Saunders ist der letzte, in dem Álvarez an Dazn gebunden ist.

Seit dem Duell gegen Smith arbeitet er mit der britischen Promotionfirma Matchroom zusammen, bisher nur mit kampfbezogenen Verträgen; er hat aber schon signalisiert, dass er nichts gegen eine weitere Zusammenarbeit hätte. "Was mich an ihm fasziniert, ist, dass er immer den stärksten Gegner boxen will", sagt Frank Smith, CEO von Matchroom, "er will nicht einfach nur gewinnen, er denkt stets an sein Vermächtnis, an seinen Platz in der Boxgeschichte." Deswegen boxte Álvarez gegen Mayweather, deswegen boxte er zweimal gegen Golowkin, deswegen boxt er nun an diesem Samstag gegen Billy Joe Saunders.

Das große Ziel: Als Erster alle Titel im Supermittelgewicht zu besitzen

Der 31 Jahre alte Brite gilt als der schwerstmögliche Gegner für Álvarez im Supermittelgewicht. Er ist, anders als Callum Smith, nur fünf Zentimeter größer, aber auch er ist technisch und taktisch nahezu komplett. Auch er demütigt seine Gegner, indem er Schlägen geschmeidig ausweicht, selbst trifft er ebenfalls hart und variabel. "Billy Joe ist der körperlich stärkste Gegner, den Canelo bisher geboxt hat, das ist wirklich ein wahnsinnig ausgeglichener Kampf", sagt Frank Smith, der mit Matchroom auch mit Saunders zusammenarbeitet. "Aber schaut man auf Canelos Power und seine Erfahrung, dann hat er vielleicht leichte Vorteile."

Saunders weiß, dass er der Außenseiter ist, bei Kämpfen am sogenannten Cinco-de-Mayo-Wochenende sollten die Leute, so ist die geplante Dramaturgie, einen Mexikaner feiern. Beim ersten Aufeinandertreffen in Dallas am Mittwoch zeigte der Brite, wie er das verhindern will: Er provozierte Álvarez mit Trash Talk, und das ist vermutlich auch seine größte Chance: dass Álvarez wütend wird, zu tapfer, zu aggressiv. Canelo aber reagierte (noch) cool auf die Provokationen, auf Instagram schrieb er: "Menos palabras, más acción". Weniger labern, mehr Action. An eine Niederlage denkt er ohnehin nicht, er spricht lieber über den Plan, im Herbst den US-Amerikaner Caleb Plant zu boxen, um als Erster alle Titel im Supermittelgewicht zu besitzen.

Es ist nicht Größenwahn, dass Álvarez so denkt. Es ist das gesunde Selbstbewusstsein dessen, der weiß, dass der Spitzname, den er als gehänselter Junge auf der Straße bekommen hat, keine Beleidigung mehr ist. Damals nannten sie ihn Canelo.

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