Süddeutsche Zeitung

Boxer Andrés Ruiz:Der Weltmeister mit der Plauze

Lesezeit: 4 min

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles/New York

Wer Anthony Joshua in diesem Moment in der siebten Runde sah, der wusste, dass es vorbei war. Kein Boxer, der noch gewinnen wird, wendet sich von seinem Gegner ab, guckt zu seinen Trainern und lehnt sich dann in der Ecke an die Ringseile. So was kann man beim Tennis machen, aber Tennis spielt man auch. Kein Mensch spielt Boxen. Beim Boxen wird gekämpft. Wer kämpfen will, der hebt die Fäuste und sieht dem Ringrichter in die Augen. Joshua stand noch nicht einmal da wie einer, der verlieren wird - sondern wie einer, der bereits verloren hat.

Er lächelte, doch sein Blick war der eines Boxers, der nicht mehr kämpfen kann und nicht mehr kämpfen will. Ringrichter Mike Griffin sah diesen fatalistischen Blick, er sah die lasche Körperhaltung, und er wusste, dass er diesen Kampf im Madison Square Garden von New York nun würde beenden müssen. Andrés Ruiz junior (Spitzname: Zerstörer) ist der neue Schwergewichts-Weltmeister sämtlicher bedeutender Verbände, er ist der erste Schwergewichts-Weltmeister aus Mexiko, und zu behaupten, dass dies eine Überraschung sei, wäre in etwa so eine Untertreibung, als würde man sagen, dass Uli Hoeneß kein besonders diplomatischer Mensch sei.

Nein, nun kein Vergleich mit den großen Überraschungen dieses Sports, mit den Siegen von Leon Spinks gegen Muhammad Ali (1978), von Buster Douglas gegen Mike Tyson (1990) oder von Hasim Rahman gegen Lennox Lewis (2001). So ein Vergleich genügt nicht, dafür waren Vorgeschichte, Verlauf und Reaktionen viel zu grotesk. Wenn schon ein Vergleich, dann mit dieser comichaften Überzeichnung dieser Sportart, mit dem ersten Duell zwischen Rocky Balboa und Apollo Creed. Ja, es war wirklich so surreal, wie sich das nun liest.

Drei Runden lang gab Ruiz den harmlosen Gegenspieler

Ruiz hätte ja noch nicht einmal antreten sollen an diesem Abend. Der geplante Gegner Jarrell Miller war positiv auf Doping getestet worden, also brauchte der Brite Joshua für seinen ersten Kampf in den Vereinigten Staaten einen brauchbaren Ersatz. Dieser Kampf sollte ein Gruß ans amerikanische Publikum sein, ein Vorgeschmack auf wunderbar zu vermarktende Duelle, gegen Deontay Wilder zum Beispiel oder Tyson Fury, und damit gigantische Zahltage. Ruiz hatte eine ordentliche Bilanz (33 Siege und eine umstrittene Niederlage), er hatte jedoch lediglich sechs Wochen für die Vorbereitung, und man tut ihm sicherlich nicht Unrecht, wenn man behauptet, dass man im das angesehen hat: Er kam mit ordentlicher Plauze in den Ring, was umso grotesker wirkte, weil Joshua, zuvor ungeschlagen in 22 Profi-Kämpfen, so aussieht, als wäre sein Körper von Michelangelo gemeißelt worden.

Drei Runden lang gab Ruiz dann auch den eher harmlosen Gegenspieler, in der dritten Runde musste er nach einer schweren Rechts-Links-Kombination von Joshua zu Boden, und nur ein paar Sekunden nach dem Aufstehen (er hob die Fäuste und sah dem Ringrichter in die Augen) zimmerte ihm Joshua eine rechte Gerade derart wuchtig ins Gesicht, dass dieser Kampf hätte vorbei sein müssen. Es hätte zum Drehbuch des Abends gepasst: Sieg durch Knockout in der dritten Runde, ein paar lockere Sprüche in Richtung Wilder oder Fury, ab zur Party in einen Club in Manhattan. Allein, Ruiz wollte noch ein bisschen kämpfen, und nur zehn Sekunden später, da lag der verdutzte Joshua selbst im Ringstaub.

In den darauf folgenden Runden wurde klar, wie unfassbar schlecht sich Joshua auf diesen Kampf und diesen Gegner vorbereitet hatte. Er hatte offenbar damit gerechnet, Ruiz ein paar Mal umhauen und dann ins Reich der Träume schicken zu können. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er würde kämpfen müssen, und er hatte nicht damit gerechnet, dass er auch würde einstecken müssen. Ruiz, technisch limitiert und nun wahrlich nicht besonders beweglich, prügelte einfach immer weiter auf ihn ein, er schickte ihn insgesamt vier Mal zu Boden, und dann kam es zu diesem Moment in der siebten Runde, in dem alles an Joshua andeutete: Ich will nicht mehr kämpfen.

"Ich bin bereit, im Ring zu sterben", hatte Ruiz davor gesagt. Eine schreckliche Boxerfloskel, zudem auch noch ein Zitat aus Rocky IV, doch waren zwei enge Freunde von Ruiz tatsächlich an den Verletzungen von Boxkämpfen gestorben. Ruiz ist in ärmlichen Verhältnissen an der amerikanisch-mexikanischen Grenze aufgewachsen, er hat sich im wahrsten Sinne des Wortes durchs Leben geboxt. Er wohnt zwar in Kalifornien, doch an einem Ort im Osten, der kaum weiter weg sein könnte von Strand und Meer und Palmen: "Ich war ein moppeliges Kind, also musste ich immer gegen die älteren Jungs kämpfen. Die vielen Schläge, die ich einstecken musste, haben mich hierher gebracht. Ich habe kämpfen gelernt."

Ruiz, 29, hat gekämpft an diesem Abend, die Mexikaner behaupten ohnehin, dass der wichtigste Muskel eines Boxers nicht in Oberarmen oder Schultern steckt, sondern zwischen den Beinen. "Cojones" sagen sie dazu, wenn einer ordentlich Eier in der Hose hat, und Ruiz ist am bedeutsamsten Abend seiner Karriere nicht in sich zusammen gefallen, er ist über sich hinaus gewachsen. "Mama, wir müssen nicht mehr rumkrebsen", sagte er danach im New-York-Knicks-Shirt: "Heute beginnt ein neues Leben."

Es beginnt auch eine neue Zeitrechnung im Schwergewicht, sämtliche Drehbücher müssen nun neu verfasst werden, es dürfte noch in diesem Jahr zu einem Rückkampf in England kommen. Alles andere: völlig offen.

Das führt direkt zu Joshua, 29, dessen Verhalten nach dem Kampf noch skurriler war als seine Leistung im Ring. Er ließ sich lächelnd mit Ruiz ablichten, begründete seine Niederlage lapidar ("Boxen ist nun mal ein harter Sport") und schrieb danach auf sozialen Netzwerken unter ein gemeinsames Foto mit Ruiz: "Das ist Andys Nacht. Gratulation, Champ". Später sagte er: "Diese Niederlage wird Teil meines Vermächtnisses. Ich werde stärker zurückkehren." Das mag sein, doch nach diesem Kampf, auf dieser kleinen Bühne in den Katakomben des Madison Square Garden, da sah Joshua nicht aus wie einer, der noch besonders gerne kämpft.

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