Boxen:85 Jahre nach Max Schmeling

Manuel Charr erboxt sich den Weltmeisterschafts-Titel im Schwergewicht in Oberhausen - sein Sieg ist die letzte Pointe eines Lebens mit vielen Wendungen.

Von Philipp Schneider, Oberhausen/München

Natürlich hat der Boxer Manuel Charr am Samstag auch noch einmal gegen die Bilder und Worte vom September 2012 gekämpft, nicht nur gegen seinen Rivalen im Ring, den Russen Alexander Ustinow. Für die Bilder und Worte, die Charr seit fünf Jahren verfolgen, hat er selbst gesorgt. Das Internet ist in solchen Fällen gnadenlos, Youtube archiviert für die Ewigkeit. Damals, in der Olympiahalle in Moskau: Vier Runden lang war Charr von Vitali Klitschko verprügelt worden, Blut tropfte von seiner Augenpartie, als der Ringrichter irgendwann ein Einsehen hatte und den Kampf abbrach. Und dann gab Charr, der sich vor dem Kampf noch sehr großmäulig gegeben hatte, im Ring ein Interview, das den harten Mann in ihm zu konterkarieren schien. Charr redete und redete, irgendwann war das Blut getrocknet und das Gespräch mit dem Fernsehmann im Grunde beendet. Doch Charr redete noch weiter. Er wandte sich an seine Mutter. "Ich liebe dich, du kriegst trotzdem von mir die Einbauküche", sagte Charr. Den Zuschauern dämmerte: Er hätte seiner Mutter gern mehr geschenkt, aber nun, nach diesem aus seiner Sicht sehr unfairen technischen K.o., würde es erst mal bei der Einbauküche bleiben. Zumindest bis zur nächsten WM-Chance. "Dann kriegst du ein kleines Höschen . . . Haus von mir, Mama", sagte Charr.

Die Häme der Kritiker war groß, als er Höschen sagte, aber Häuschen meinte

Nun ist es tatsächlich so weit. Manuel Charr, 33 Jahre alt, 1,92 Meter groß, der im Libanon geborene "Koloss von Köln", ist der erste deutsche Boxweltmeister im Schwergewicht seit 85 Jahren. So lang ist es her, dass Max Schmeling den Titel aller Klassen besaß, er trug ihn von 1930 bis 1932. Charr besiegte Ustinow in Oberhausen einstimmig nach Punkten (115:111, 116:111, 115:112) und sicherte sich den Titel der WBA. Er dachte nun nicht mehr an seine Mutter, sondern an die Bundeskanzlerin: "Frau Merkel, wir haben es geschafft, wir sind Weltmeister!"

, rief er im Ring. Charrs Sieg, das ist unstrittig, ist der Triumph eines Mannes, der in seinem Leben trotz aller Widrigkeiten niemals aufgegeben hat. Und doch mehren sich nun wieder dieselben kritischen Stimmen, die schon nach Charrs Niederlage gegen Klitschko zu Unrecht kübelweise Häme über ihn ausgeschüttet hatten. Dabei ist es ja so: Wer vier Runden lang Prügel von Vitali Klitschko bezieht, der darf unmittelbar danach schon auch mal Höschen sagen und Häuschen meinen. Oder nicht?

Boxen: Technisch nicht immer brillant, aber effektiv: Manuel Charr (r.) wurde der Titel nach dem Duell mit Alexander Ustinow einstimmig zugesprochen.

Technisch nicht immer brillant, aber effektiv: Manuel Charr (r.) wurde der Titel nach dem Duell mit Alexander Ustinow einstimmig zugesprochen.

(Foto: Guido Kirchner/AFP)

Charr ist in der Boxszene umstritten. Weil er kein Ausnahmekönner ist, kein graziler Techniker. In jüngerer Vergangenheit hat Charr auch keinen namhafte Gegner besiegt. Um eine Weltmeisterschaft der WBA durfte er nur boxen, weil der Verband neben dem Briten Anthony Joshua gerne einen zweiten Titelträger haben wollte, der sich als solcher zu Geld machen ließe. Damit der Trick funktioniert und es intern trotzdem noch halbwegs fair zugeht, darf sich Joshua im Gegensatz zu Charr und genau wie seine Vorgänger Tyson Fury und Wladimir Klitschko "Superchampion" der WBA nennen. Charr ist kein Superchampion, er ist etwas viel Nachhaltigeres: Charr ist der Boxer mit der interessanten Lebensgeschichte. Und so etwas wiegt dann auch die Einschätzung seines ehemaligen Trainers Ulli Wegner auf, der als Co-Kommentator von Sky am Ring saß, dort erzählte, er gebe "Manuel immer wieder Tipps am Telefon", und über Charrs Gegner Ustinow urteilte: "Nur soviel: Der Russe hatte nichts drauf." Der Russe, der nichts drauf hatte, ist nun der Mann, der Charr zum Weltmeister machte. Man kann sich seine Gegner halt nicht immer aussuchen.

Es ist ja ohnehin ein kleines Wunder, dass Charr überhaupt in den Ring klettern konnte am Samstag. Vor sieben Monaten bekam er zwei Hüftprothesen eingesetzt, nach acht Wochen Training stand er schon wieder im Ring. "Manchmal habe ich geweint vor Schmerzen", erzählte Charr nach dem Sieg, er rief: "Glaubt an euch. Arbeitet an euren Zielen. Seid hartnäckig. Nichts ist unmöglich!" Charrs Triumph ist also auch der seiner behandelnden Ärzte. Er holte sie bei der Pressekonferenz auf die Bühne, um sich bei ihnen zu bedanken.

Aktuelles Lexikon: Schwergewicht

Müssten David und Goliath heute einen Boxkampf austragen, gäbe es ein Problem. Sie dürften gemäß den internationalen Regeln nicht gegeneinander antreten. Goliath war angeblich drei Meter groß, sein Gegner ein schmächtiger Jüngling. Fair war das nicht - worauf der Mythos des Duells ja gerade fußt. Heute steckt der Gedanke, für einen vergleichbaren Wettbewerb zwischen Kontrahenten zu sorgen, in allen Kampfsportarten in der Einteilung von Gewichtsklassen. Der moderne Boxsport begann Ende des 19. Jahrhunderts, 17 Gewichtsklassen haben sich seitdem bei den Profis etabliert. Die unterste Kategorie: das Minifliegen- beziehungsweise Strohgewicht. In ihr darf antreten, wer bei den Männern höchstens 105 Pfund wiegt, umgerechnet 47,627 Kilo. Bei den Frauen liegt die Grenze bei 102 Pfund (46,266 Kilo). Die Königsdisziplin ist das Schwergewicht, dort muss der Athlet mindestens 200 Pfund (90,718 Kilo) wiegen (Frauen: 79,378 Kilo). Nach oben existiert kein Limit. Deshalb war es zulässig, dass der 33 Jahre alte Manuel Charr mit seinen 104,5 Kilo am Samstag in Oberhausen um den WM-Titel gegen Alexander Ustinow kämpfte, der 127 Kilo wog. Mit 2,02 Metern war der Russe zudem fast so groß wie Goliath - trotzdem gewann Charr. Er ist nun der erste deutsche Schwergewichts-Weltmeister seit Max Schmeling 1932. Berühmtester Schwergewichts-Boxer der Geschichte ist noch immer Muhammad Ali. Gerald Kleffmann

Charr, der im Alter von fünf Jahren vor dem Bürgerkrieg im Libanon geflüchtete Sohn einer Libanesin und eines Syrers, besitzt seit anderthalb Jahren den deutschen Pass. Hierzulande saß er in Untersuchungshaft und musste vor Gericht, vor zwei Jahren erhielt er einen lebensgefährlichen Bauchschuss in einem Döner-Imbiss in Essen. Wegen seiner Hüftprobleme drohte ihm das Karriereende, "aber ich habe mich durchgebissen", jubelte er nun.

Irgendwann, in nicht allzu ferner Zukunft, wird Manuel Charr wohl gegen den Klitschko-Bezwinger Anthony Joshua in den Ring steigen müssen, das große Duell erscheint unausweichlich. "Das ist mein Ziel. Ich will immer die Besten." Der Champion hat keine Angst mehr vor dem Superchampion.

Und Mamas Häuschen muss abbezahlt werden.

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