Boxen:Die Rückkehr des Verwundbaren

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Das große Ziel ist wieder in Sichtweite: Serge Michel, 32, will einen WM-Titel gewinnen. (Foto: Leonie Paloma Poppe/oh)

Der Traunreuter Serge Michel kämpft an diesem Mittwoch um die WBO-Europameisterschaft im Halbschwergewicht - und um einen Vertrag bei Top Rank.

Von Benedikt Warmbrunn

Seine Leidenschaft hat Serge Michel im Laufe der Jahre an viele Orte geführt, er war in Bulgarien, in Kasachstan, in der Türkei, in Rio kämpfte er beim olympischen Turnier, und weil Michel wie viele Boxer auch ein bisschen eitel ist, hat er diese Reisen immer genutzt, um sich den Bart schneiden zu lassen, denn in Bulgarien, in Kasachstan, in der Türkei und in Rio gibt es überall Barbershops. Anders als in Traunreut, seiner Heimatstadt. Sein eines großes Ziel für dieses Jahr war es daher, dort den ersten Barbershop zu eröffnen, eine Ladenfläche hatte er schon, auch einen Namen, "Seiten auf Null", eine Idee seiner Frau. Dann aber kam Corona, und Michel sah ein, dass es keine sonderlich geniale Idee wäre, ausgerechnet jetzt einen Laden zu eröffnen, selbst wenn es der erste Barbershop der ganzen Stadt gewesen wäre. Die Traunreuter Männer und ihre Bärte müssen sich also noch ein wenig gedulden.

Von seinem zweiten großen Ziel für dieses Jahr ist Serge Michel dagegen nur noch wenige Minuten entfernt.

An diesem Mittwochabend boxt Michel, 32, in Wakefield in England gegen den Letten Ricards Bolotniks, sollte er gewinnen, wäre es der zwölfte Sieg in seinem 13. Kampf als Profi, er dürfte sich Europameister im Halbschwergewicht nach Version des Verbandes WBO nennen. Der größte Preis des Abends aber wäre, dass er dann das Golden-Contract-Turnier gewonnen hätte, was ihm genau das garantieren würde, was der Name verspricht: einen goldenen Vertrag, einen bei der US-amerikanischen Promotionsfirma Top Rank, einem der größten Namen im weltweiten Boxen. Fünf Kämpfe würde der Vertrag umfassen, für jeden Kampf gibt es eine sechsstellige Gage. Sollte Michel also in der englischen Provinz gewinnen, wäre aus einem international eher unbekannten bayerischen Boxer plötzlich einer der deutschen Kämpfer mit den besten Aussichten geworden.

Zehnmal drei Minuten, der größte Abend seiner bisherigen Karriere. Aber am ganz großen Ziel wäre er noch lange nicht. Michel will einen WM-Titel gewinnen, "und wenn ich da hinkommen will", sagt er, "dann müssen solche Gegner wie Bolotniks geschlagen werden, sonst brauche ich gar nicht anfangen, auf so einem hohen Niveau zu träumen".

Über seinen Gegner sagt Michel: "Ich sehe nicht, mit was er mich schlagen können sollte."

Als Jugendlicher saß Michel zwei Haftstrafen ab, Gewalttaten, Einbruch, Diebstahl. Ihn retteten die erste Schwangerschaft seiner heutigen Frau - und das Boxen; noch im Gefängnis fing er an zu trainieren. Als Amateur hatte Michel 115 von 150 Kämpfen gewonnen, eine gute Quote, 2016 sicherte er sich den prestigeträchtigen Chemiepokal. Auch in seinen ersten acht Kämpfen als Profi gewann er, er fühlte sich gut, ging feiern, es lief ja alles, "ich war auf einem richtigen Egotrip unterwegs". Sein neuntes Duell verlor er, durch einen schweren Knockout, sein damaliger Promoter Alexander Petkovic kündigte ihn fristlos. Michel war am Tiefpunkt angekommen, an einem Punkt, an dem andere Boxer zerbrechen, an den Erwartungen, vor allem aber an dem Gefühl, doch nicht unverwundbar zu sein.

Michel aber sagt: "Diese Niederlage war richtig gut. Ich habe diese Quittung gebraucht, das war genau der richtige Wachrüttler. Hätte ich damals knapp gewonnen, hätte ich nichts geändert. Und dann wäre ich nicht dort, wo ich jetzt bin."

Nach der Niederlage stellte Michel sein Leben um, er feiert inzwischen weniger, achtet mehr auf die Ernährung, auf die Erholung, er geht in jedes Training mit dem Fokus, danach ein besserer Boxer sein zu wollen. Für den Kampf gegen Bolotniks bereitete er sich eigens in München im Mariposa Boxing Club vor. Die aufgefrischte Professionalität ist die eine gute Seite dieser Niederlage. Die andere ist, dass Michel auf einmal vertragslos war. Und dass er so überhaupt erst für das Golden-Contract-Turnier verpflichtet werden konnte.

Dass er es nun bis ins Finale geschafft hat, sagt Michel selbst mit seiner neu erworbenen Demut, überrasche ihn nicht, "ich hatte mich schon als Favorit im Turnier gesehen". Dank seiner langen Amateurkarriere kenne er nicht nur das Gefühl, Turniere zu boxen, teilweise innerhalb einer Woche - er habe auch einfach die beste technische Grundausbildung. Im Halbfinale boxte er gegen Liam Conroy, den letzten Briten im Turnier, er wusste also, dass er klar gewinnen musste, damit für die Punktrichter nicht Conroys Heimvorteil entscheidend werden konnte. Michel kassierte zunächst einige Körpertreffer, doch dann traf er selbst immer häufiger und härter, vor allem mit dem rechten Aufwärtshaken. Er siegte vorzeitig.

Finalgegner Bolotniks, sagt Michel, müsse er "natürlich ernstnehmen", er fügt aber hinzu: "Ich sehe nicht, mit was er mich schlagen können sollte." Es könnte das gesunde Selbstbewusstsein eines Boxers sein, der sich nicht bremsen lassen will von der eigenen Vorsicht. Es könnte natürlich genauso der Anfang eines weiteren Egotrips sein.

Angenommen also, er gewinnt - was plant er dann? Die WM, klar, und dann sagt Michel noch: "Wenn ich die nächsten sechs Kämpfe gewinne, beende ich meine Karriere." Spätestens danach wird er sich dann auch um die Traunreuter Bärte kümmern.

© SZ vom 02.12.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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