Süddeutsche Zeitung

WM im Supermittelgewicht:Er kann auch Jazz

Canelo Alvarez, der aktuell als bester Boxer der Welt gilt, zeigt gegen Billy Joe Saunders vor 73 126 Zuschauern in Dallas, dass er sich auch auf unbequeme Gegner einstellen kann. Noch ein Sieg fehlt ihm zur Vereinigung aller Titel.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Es war dieser Moment, Mitte der achten Runde, da wussten beide Boxer: Das war's. Die Zuschauer hatten davon keine Ahnung; sie hatten gesehen, dass Billy Joe Saunders nach dem krachenden Aufwärtshaken von Saul Alvarez zwar taumelte, aber nicht umfiel. Dass er weiter boxte, dass er dieses Gefecht um drei WM-Gürtel im Supermittelgewicht womöglich gar gewinnen könnte. Aber Kampfsportler haben ein feines Gespür dafür, wenn ein Schlag zerstörerische Kraft entwickelt. Also riss Alvarez sogleich die Fäuste nach oben, sein Gegner ging am Ende der Runde nicht zur Ecke wie einer, der verlieren würde - sondern wie einer, der bereits verloren hat.

Genauso war es auch. Saunders gab nach Rücksprache mit Trainer und Ringarzt auf. Alvarez hatte ihm zwar nicht, wie er im Ring vermutete, "den Wangenknochen gebrochen", jedoch die rechte Augenhöhle. Eine schlimme Verletzung und ein unappetitliches Ende für einen spannenden Kampf, den Saunders überraschend nicht nur ausgeglichen gestaltet, sondern bisweilen dominiert und damit die vorgegebene Dramaturgie für diesen Abend gestört hatte.

Alles, wirklich alles war auf einen Sieg von Alvarez ausgelegt gewesen, den viele für den über die Gewichtsklassen hinweg besten Boxer der Welt halten. Ein Kampf am Wochenende des mexikanischen Feiertags Cinco de Mayo, 73 126 Zuschauer im Footballstadion in Dallas, die den mexikanischen Volkshelden beim Streben nach "Undisputed 168" sehen wollten - also der Erste zu sein, der alle Titel im Supermittelgewicht auf sich vereint - 168 US-Pfund (76 Kilo) sind das Maximalgewicht in dieser Klasse.

Der in 30 Profikämpfen unbesiegte Saunders sollte den begabten Nebendarsteller geben, wie ein Triangelspieler beim Klavierkonzert. Alvarez ist tatsächlich ein kompletter Künstler, einer, der seinen Rhythmus findet, seine Gegner filetiert und dann zerstört. Saunders hatte jedoch keine Lust, Triangel zu spielen. Er kam daher wie ein Trompeter, der absichtlich fürchterliche Töne ausstößt. Immer wieder kam Saunders mit dem rechten Jab an den Kopf des Gegners. Alvarez probierte schwere Haken, doch er traf nicht, und schon bald schaute er genervt, so wie der Pianist auf diesen vorlauten Trompeter blickt.

Sechs Runden lang ging das so. Nichts hassen intelligente Boxer (Wladimir Klitschko erlebte das gegen Tyson Fury) so sehr wie Chaos und einen, der den Plan stört. Es war Alvarez anzumerken, wie er seinen Rhythmus suchte, wie es ihn nervte, dass Saunders in der sechsten Runde mit einem linken Haken ein "Trööööt" hinzufügte und gleichzeitig durch flinke Beinarbeit und geschmeidiges Wippen mit dem Oberkörper all seinen Power-Punches auswich. Es war ruhig im Stadion, das ungläubige Raunen klang wie eine Frage: Kann der Klassiker auch Jazz? Kann Alvarez improvisieren?

Die Antwort darauf gab Alvarez von der siebten Runde an; danach sagte er, dass er eben nicht habe improvisieren müssen, sondern das genau so geplant habe. "Ich wusste, dass sich der Kampf so entwickeln würde. Ich habe mich schnell angepasst, der hat doch keine Runde gewonnen." Tatsächlich lag Alvarez zum Zeitpunkt des Abbruchs auf den Zetteln aller Punktrichter vorne - zweimal 78:74 und einmal 77:75. Die meisten Beobachter hatten den Kampf ausgeglichener gesehen: die mittleren vier Runden für Saunders, die beiden davor und danach für Alvarez.

Alvarez reißt die Arme hoch zum Zeichen: Das war's.

Einerlei. Denn es gab diesen Moment in der achten Runde, der im Nachhinein betrachtet wirklich aussah, als hätte das Alvarez die ganze Zeit so geplant und nur nach dem richtigen Augenblick, nach Timing und Reichweite für diesen einen Schlag geforscht. Saunders probierte mal wieder den rechten Jab, er verlor dabei ganz kurz das Gleichgewicht. Nun war Alvarez da, Abstand und Timing waren perfekt, der rechte Aufwärtshaken landete unter dem Auge von Saunders. Die Leute johlten, aber nicht laut genug, also riss Alvarez die Fäuste nach oben, um zu zeigen: Das war's. Und dann ist es auch völlig egal, wer die Runden davor wie bewertet, wenn der eine den anderen kampfunfähig prügelt.

Das ist wichtig, weil es nun keine Zweifel gibt, und genau das war dem bisweilen schüchternen und sehr höflichen Alvarez nach dem Kampf anzumerken. Fragen nach den mittleren Runden beantwortete er mit einer Gegenfrage: "Habe ich nicht gesagt, dass ich diesen Kampf in der siebten bis neunten Runde beenden werde?" Als Mittelgewichts-Weltmeister Demetrius Andrade ein Duell gegen Alvarez zu erpöbeln versuchte, sagte der ruhig: "Ich weiß schon: Du willst einen Zahltag. Das hier ist aber meine Nacht, ich rede über die Dinge, über die ich reden will." Dann bat er Andrade, erst höflich und dann unter Zuhilfenahme einiger Schimpfworte, dass der sich entfernen möge.

Alvarez, 30, ist in der für Boxer außergewöhnlichen Lage, sich auf dem Höhepunkt selbst zu vermarkten. "Er kann tun, was immer er will, und er kann boxen, wen und wo er will", sagte Matchroom-Chef Eddie Hearn, der sich um die Vermarktung der vergangenen zwei Alvarez-Kämpfe gekümmert hat und das gern weiter tun will. Was Alvarez will: einen Kampf gegen den Amerikaner Caleb Plant, der den einzigen Gürtel besitzt, der Alvarez fehlt für "Undisputed 168". Danach: vielleicht ein dritter Kampf gegen Gennady Golowkin (einen gewann Alvarez, der andere endete unentschieden), vielleicht ein Duell gegen Artur Beterbiew, der im Halbschwergewicht zwei WM-Gürtel besitzt.

Es war ein Risiko, diesen Weg zu gehen, doch wusste Alvarez bei aller Zurückhaltung, dass er gut genug ist, auch die stärksten Gegner besiegen zu können. So wie er am Samstagabend vor allen anderen wusste, als seine rechte Faust das Gesicht von Saunders traf: Das war's.

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