Bosnien-Herzegowina bei der Fußball-WM:Schlaflos in Sarajewo

Bosnia-Herzegovina qualifies for soccer World Cup

Kollektives Ausrasten in der Heimat: In Sarajevo feierten die Bosnier die ganze Nacht.

(Foto: dpa)

Ein kleines, gebeuteltes Land qualifiziert sich überraschend für Brasilien. Bosniens Nationalelf sorgt mit einem 1:0 in Litauen für Ausnahmezustand in der Heimat. Die Fernsehreporter feiern mit und ein Bundesliga-Profi wird zum Helden - auf dem Balkan wächst ein fußballerisch interessanter Underdog heran.

Von Jonas Beckenkamp

Man stelle sich vor, Oliver Kahn und Katrin Müller-Hohenstein hätten am Dienstagabend vor laufenden Kameras ausgelassen einen draufgemacht. Hätten siegestrunken deutsche Nationalspieler abgebusselt, wären gehüpft und gepurzelt - und hätten mitgegrölt, als Joachim Löw und seine Männer die WM-Teilnahme feierten. Arm in Arm mit den überwältigten Helden, weil sich alle so sehr über das Erreichte freuen.

Kaum vorstellbar ist das, schließlich beansprucht das deutsche Live-Fernsehen eine gewisse Objektivität und Sachlichkeit für sich: Da haben Reporter zu analysieren und nicht zu euphorisieren. Im bosnischen TV kam es nach dem 1:0 (0:0) der Nationalelf in Litauen aber zu genau solchen Szenen. Den Berichterstattern war ausnahmsweise schnurzpiepegal, wie man sich als Seitenlinien-Nachfrager offiziell zu verhalten hat - sie jubelten einfach mit.

Da stand also Zvjezdan Misimović - in München geboren und in der Bundesliga groß geworden - mit dem Mikro vor der Nase, während ihm der bosnische Fernseh-Kahn einfach um den Hals fiel. Bosnien-Herzegowina, dieses kleine Land auf dem Balkan mit etwas mehr als viereinhalb Millionen Einwohnern, hat sich erstmals für eine Fußball-WM qualifiziert. Nein, nicht für die Playoffs, sondern direkt als Gruppenerster!

Das triste Stadion im litauischen Kaunas lieferte eine bizarre Kulisse für diesen historischen Abend, es war dunkel, neblig und aus Gastgebersicht kaum jemand da. Abgesehen von einer beträchtlichen Schar hartgesottener bosnischer Fans hätte hier auch ein Geisterspiel stattfinden können. Doch das alles interessierte nach dem Schlusspfiff niemand mehr. Es war ein bosnisches Heimspiel in der Fremde. Trainer Safet Sušić und einige Spieler zeigten sich von ihren Gefühlen übermannt und weinten angesichts des Erfolgs.

"Unsere Drachen sind bis nach Brasilien geflogen"

"Danke an alle, die nun feiern", stammelte Stürmer Edin Džeko, noch so ein alter Bekannter aus dem deutschen Elitefußball, "wir haben die Macht von Bosnien-Herzegowina gezeigt". Daheim in Sarajewo rasteten die Menschen auf dem Hauptplatz aus: Autokorsos, Hupkonzerte, Feuerwerk - was man halt so macht, wenn man als Fußball-Winzling plötzlich auf der ganz großen Party mitmischen darf.

Es war ein qualvolles Spiel für Džeko und seine Kollegen, denn während parallel Hauptkonkurrent Griechenland 2:0 gegen Liechtenstein gewann, mühten sich die Bosnier gegen die bereits ausgeschiedenen Litauer. Die Gäste versiebten reihenweise passable Chancen, sie rannten an, ehe es dann doch noch klappte: Džeko setzte sich auf der linken Seite mit einem Sprint durch, seinen Pass in die Mitte drückte Vedad Ibisević über die Linie (68. Minute) - auch der zweite bosnische Angreifer spielt, natürlich: in Deutschland, beim VfB Stuttgart.

Politisch brisante Dauerbrenner

Nach zwei Playoff-Niederlagen (2010 und 2012, jeweils gegen Portugal) fährt das Land nun zur WM an den Zuckerhut. "Unsere Drachen sind bis nach Brasilien geflogen", applaudierte voller Euphorie die Tageszeitung Oslobođenje aus Sarajewo. Die bosnischen Drachen sorgten in ihrer Heimat für eine "unvergessliche Party". "Die Straßen der Hauptstadt brennen vor Gesang und Freude", so die Nachrichtenseite Klix.

So beschert der Fußball einem ganzen Land herbstliche Glücksgefühle, dabei wurde der bosnisch-herzegowinische Verband während der Qualifikation zur EM 2012 noch zeitweilig von der Fifa und der Uefa suspendiert. Der Grund war damals ein heftiger Streit um die Besetzung des bosnischen Präsidiums - es ging um die politische Dauerbrenner-Frage: Wer soll in dem gespaltenen Land dem Verband vorstehen? Bosnier, Serben oder Kroaten?

Bosnier, Serben oder Kroaten?

Erst ein sogenanntes "Normalitätskomitee" um den legendären Ex-Trainer Ivica Osim konnte damals die Statuten wieder gerade rücken. Von seiner schwierigen jüngeren Geschichte kann sich das Land also weiterhin nicht ganz loslösen. Noch immer kämpft der Staat um die Aufnahme in die EU, die Folgen des Krieges in den Neunzigern wirken auf komplizierte Weise nach - und reichen bis in den Fußball: Nationalspieler wie Misimović, Salihović oder Braunschweigs Ermin Bičakčić wuchsen als Auswanderer- oder Flüchtlingskinder in Deutschland auf - wohlige Profisport-Perspektiven sehen anders aus.

Trotzdem befinden sich im Kader der Nationalmannschaft seit Jahren hervorragende Fußballer. Derzeit sind es neben den früheren Deutschland-Größen Misimović (mittlerweile in China aktiv) und Džeko (Manchester City) fünf Bundesliga-Akteure und auch sonst verfügt das Team mit den beiden Rom-Legionären Miralem Pjanić (AS Rom) und Senad Lulić (Lazio) über reichlich Auslandserfahrung. Nur zuhause in Bosnien spielt keiner.

Immerhin ging es für die Fußballer noch in der Nacht nach Sarajewo, um die Feierlichkeiten ein wenig auszukosten. Da waren Oliver Kahn und Frau Müller-Hohenstein längst im Bett.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: