Süddeutsche Zeitung

Borussia Mönchengladbach:Luftschloss am Niederrhein

Trotz Verletzungspech im Endspurt kehrt Gladbach erstmals seit 2016 in die Champions League zurück. Die Borussia scheint den Trainer gefunden zu haben, der zu ihr passt.

Von Ulrich Hartmann, Mönchengladbach

Der Herzkasper fühlt sich im Luftschloss besonders wohl. Weil die Nerven im Fußball oft an übertriebenen Erwartungen scheitern, war es Trainer Marco Rose umso wichtiger, zu erklären, warum genau dies in Mönchengladbach nicht der Fall gewesen war, und warum es ihm gleich in der ersten Saison gelang, sich mit der Borussia für die Champions League zu qualifizieren. "Wir haben keinen Herzkasper gekriegt, als es zwischendurch mal nicht rund lief", sagte Rose und fand für die Gelassenheit auch diesen Grund: "Der Max hat keine Luftschlösser aufgebaut, sondern immer klar gesagt, was bei der Borussia geht und was nicht."

Der Max -, das ist Sportdirektor Max Eberl, ein branchenbekannter Luftschloss-Gegner, der selbst für champions-league-taugliche Kader als Saisonziel jahrelang "einstellige Platzierungen" ausgerufen und für solch gezähmten Ehrgeiz bisweilen Kritik geerntet hatte. Obwohl seine frei formulierten Saisonziele in den vorherigen drei Spielzeiten mit den Platzierungen neun, neun, fünf erfüllt wurden, könnte aus seinem Unterbewusstsein doch eine dunkle, verborgene Lust auf den Bau eines Luftschlosses zutage getreten sein, als er vor einem Jahr plötzlich Trainer Dieter Hecking entließ und aus Salzburg den gebürtigen Leipziger Rose, 43, verpflichtete.

Beim 2:1 gegen die Hertha trumpfen Lars Stindl, Jonas Hofmann und Breel Embolo auf

Dass Eberl sich mit extrovertierten Erwartungen zurückgehalten hat, rentierte sich nun in jenen Momenten, in denen die Mannschaft an den Tempo- und Risikovorgaben des neuen Trainers zu scheitern drohte. In der Bundesliga erlebte man früh eine 1:3-Heimpleite gegen Leipzig, und in der Europa League ein 0:4 gegen den österreichischen Wolfsberger AC. Nach einer Heimniederlage gegen Basaksehir Istanbul schied Gladbach schon in der Gruppenphase der Europa League aus, und auch im DFB-Pokal war bereits in der zweiten Runde Schluss, was auch am Lospech lag (Auswärtsspiel bei Borussia Dortmund).

Der Herzkasper ließ sich allerdings selbst in Tagen des Misserfolgs nicht in Mönchengladbach blicken. Als ausgerechnet auf der Zielgeraden der Saison in Denis Zakaria, Alassane Plea und Marcus Thuram drei bedeutende Spieler verletzt ausfielen, trumpften umso leidenschaftlicher die Angreifer Lars Stindl, Jonas Hofmann und Breel Embolo auf. Sie führten ihre Mannschaft in jenes Luftschloss, das auch künftig in keinem Reiseführer über den Niederrhein auftauchen wird. Der finale 2:1-Sieg gegen Hertha BSC Berlin durch Treffer von Hofmann und Embolo war der umjubelte letzte Schritt. "Es war eine unglaubliche Teamleistung über die gesamte Saison hinweg", sagte Rose, der partout keinen Spieler hervorheben wollte.

Für Eberl hingegen war Rose der entscheidende Wegweiser ins Glück. "Er passt unfassbar gut zu uns und hat in kürzester Zeit alle begeistert." Einen solchen Trainer hatte man seit Lucien Favre nicht mehr. Der Schweizer hatte Gladbach in der Saison 2014/15 mit einer sogar noch um einen Punkt besseren Saisonbilanz in die Champions League geführt und seinem Nachfolger André Schubert bei seinem plötzlichen Abschied im September 2015 eine derart eingespielte Mannschaft überlassen, dass Gladbach sich 2016 gleich noch einmal für die Champions League qualifizierte. Erstmals seit einem 0:4 beim FC Barcelona im Dezember 2016 wirken die Borussen vom Herbst an wieder in der Königsklasse mit.

Für Rose, der mit RB Salzburg 2017 und 2018 in der Champions-League-Qualifikationsphase gescheitert war, gibt diese "außergewöhnliche Belohnung" keinen Anlass zur Selbstbeweihräucherung. "Wir müssen demütig bleiben", sagt er, "wir müssen uns weiterentwickeln und dürfen nie zufrieden sein." Solch eine freundliche Forderung bedeutet für die Kaderplanung allerdings kaum, dass Gladbach übertrieben ins Risiko gehen wird. Das haben sie vor Corona nicht getan und werden es auch danach nicht tun. "Wir wollen den Kader schon verbessern", sagt Eberl, "wir werden mit dem Champions-League-Geld aber auch die finanziellen Corona-Ausfälle lindern." Als Verstärkungen für Gladbach werden aktuell gehandelt: Marko Grujic vom FC Liverpool, zuletzt Leihspieler bei Hertha BSC, Hannes Wolf von RB Leipzig und Linton Maina von Hannover 96.

Frei werden deshalb nun einige Plätze im Kader. Mit dem Abschied des Brasilianers Raffael, 35, Kosename "Papi", geht zugleich bei der Borussia eine Ära zu Ende. Der Spielgestalter kam 2013 und wurde unter Favre zu jenem Schlüsselspieler, der aus einem Abstiegskandidaten einen Champions-League-Teilnehmer zu formen half. Auch dem eleganten brasilianischen Fußball ist der Herzkasper bekanntlich fremd. Raffael verlässt Gladbach also guten Gewissens und voller Vertrauen in eine große Zukunft des Klubs. Wohin es ihn selbst zieht, ist bislang offen.

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SZ vom 29.06.2020
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