Oben im Block 22A haben sie selbstverständlich ganz genau gewusst, wie's geht. Lothar Matthäus, Christoph Metzelder und Heribert Bruchhagen saßen im Oberrang der Mönchengladbacher Arena in der ersten Reihe, und immer wieder wandten sich die drei Herren aus dem diesjährigen Expertenrat des Bezahlsenders Sky mit großer Geste einander zu. Gerne hoben sie die Arme und zeigten, wie die Leverkusener hätten spielen mögen und wo sich Lücken in der gegnerischen Abwehr auftaten. Von oben sieht das oft recht klar aus, es ist, als blickte man aus einem Flugzeug auf ein Mittelgebirge. Aber wer nicht in den Genuss einer privilegierten Expertenaussicht kommt, sondern selbst drinsteckt in einem solchen Mittelgebirge, empfindet die Sache meist als etwas unübersichtlicher.
Es war also eine große Herausforderung für die hochgehandelte Mannschaft von Bayer Leverkusen, jenes Team, dem manche nachsagen, es in dieser Saison mit Borussia Dortmund aufnehmen zu können und vielleicht sogar ein bisschen mit dem FC Bayern München. Aber in Leverkusen hat es auch eine gewisse Tradition, dass mit hohen Erwartungen bisweilen tiefe Stürze einhergehen. Die 1:2-Niederlage bei Borussia Mönchengladbach war zwar keineswegs ein tiefer Sturz, aber doch ein kleiner Stolperer. Die hochveranlagten Offensivspieler Karim Bellarabi, Hakan Calhanoglu und Kevin Volland fanden ihre Wege nicht durchs taktisch verengte Gladbacher Mittelgebirge, und als sie trotzdem beinahe ein Unentschieden geschafft hätten, schoss Lars Stindl für die Borussen fünf Minuten vor Schluss den Siegtreffer. In den letzten Spielminuten standen im Kabinengang der Leverkusener Sportchef Rudi Völler und der Manager Jonas Boldt beisammen und blickten enttäuscht auf einen Monitor. Sie schauten sich an und zuckten die Schultern. Fehlstart. Kann passieren.
Gladbachs Formation steht schon, Bayer beklagt einige Verletzte
Es war eine unterhaltsame Partie, die sich in Gladbach abspielte. In der Nachspielzeit der ersten Hälfte brachte André Hahn die Gastgeber in Führung, elf Minuten vor dem Ende glich ein Herr namens Joel Pohjanpalo aus. Der kam am Samstag nach zuletzt drei Jahren Ausleihe nach Aalen und Düsseldorf zu seinem Bundesliga-Debüt und brauchte dann keine Minute für seinen ersten Bundesligatreffer: Einwechslung in der 78. Minute, Kopfballtor in der 79. Minute. Bereits am Mittwoch kehrt der 21-Jährige in den Mönchengladbacher Borussia-Park zurück, um dort mit der finnischen Nationalmannschaft gegen Deutschland zu spielen.
Im Gegensatz zu den personell bereits bestens ausgestatteten Gladbachern befindet sich Leverkusen noch auf der Suche nach der besten Formation, und das liegt auch an diversen Verletzungen. Die Stürmer Stefan Kießling und Javier Hernandez fehlten beim 1:2 ebenso wie Lars Bender, Zugang Aleksandar Dragovic steigt erst noch ins Training ein. Dafür konnte der Klub am Sonntag immerhin bei Bernd Leno, Charles Aránguiz und Ömer Toprak Entwarnung geben, die sich in Gladbach allesamt Blessuren zugezogen hatten.
Jubel nach dem Schlusspfiff: Gladbachs Trainer André Schubert feiert den Heimsieg mit Oscar Wendt (Mitte).
Führung zur rechten Zeit: In der Nachspielzeit der ersten Hälfte bejubelt Mönchengladbach die Führung durch André Hahn (vorne).
Christoph Kramer hatte Hahn mit einem langen Ball in die Hälfte der Leverkusener geschickt, der musste ihn nur noch reinmachen.
Nach einer ausgeglichenen ersten Hälfte erhöht Gladbach, hier Mittelfeldspieler Raffael (r.), nach der Pause den Druck.
Nach sehenswerten Chancen für die Borussia ist es aber Leverkusens Joel Pohjanpalo, der eine heldenhafte Kopfvorlage von Bellarabi in der 80. Minute einköpft.
Ganze drei Minuten ist der Finne auf dem Platz, als er den Ausgleich macht. Leverkusen hofft wieder auf einen Sieg.
Fünf Minuten später ist diese Hoffnung zunichte: Gladbachs Lars Stindl trifft zum 2:1-Endstand.
Mönchengladbach glückt der perfekte Einstand für eine Saison, in der die Borussia wieder oben mitspielen will.
Aber das hindert die Bayer-Verantwortlichen nicht daran, sich offensiv zu geben. "Wir machen uns nicht kleiner als wir sind", sagte Völler am Sonntag bei Sport 1, "wir sind die letzten beiden Jahre mit Roger Schmidt Vierter und Dritter geworden und wollen es noch besser machen." Die Verantwortlichen wissen um die grundsätzliche Qualität ihres Kaders, sie konnten schließlich bedeutende Spieler wie Hernandez, Toprak, Jonathan Tah oder Karim Bellarabi halten - und wertvolle Akteure wie Julian Baumgartlinger, Kevin Volland und Dragovic dazugewinnen. Und die von ihrer Elf gebotene Leistung am Samstag war ja durchaus ordentlich. "Ich bin sehr optimistisch, dass wir mit dieser Mannschaft einen noch besseren Fußball spielen können", sagte Völler.
Bei der Borussia hingegen, die nach den beiden Siegen in den Champions-League-Playoffs gegen Bern und dem 1:0 im Pokal gegen den Regionalligisten Drochtersen auch das vierte Pflichtspiel gewann, sind sie weiterhin bedächtiger mit dem Formulieren von Saisonzielen. Der Manager Max Eberl pflegt seit Jahren geduldig sein extra weit gespanntes Saisonziel "einstelliger Tabellenplatz", und als Gladbachs 1:0-Schütze André Hahn am Samstag mit absichtlicher Beiläufigkeit gefragt wurde, was man sich nach diesem erfolgreichen Saisonstart nun so vorgenommen habe, antwortete er wie programmiert: "Einen einstelligen Tabellenplatz." Als die umstehenden Berichterstatter darob kicherten, musste auch Hahn grinsen und kommentierte trocken: "Großes Gelächter."
Doch sogar mit diesem Spott, den die übertriebene Demut provoziert, kommen sie in Mönchengladbach zurzeit gut zurecht. Der Trainer André Schubert hat gegen Leverkusen mal wieder demonstriert, dass ihm mit seiner üppig ausgestatteten Offensivabteilung nicht langweilig wird. Er hat Thorgan Hazard, der unter der Woche gegen Bern noch drei Mal getroffen hatte, einfach auf die Bank gesetzt und lieber Hahn gebracht - mit großem Erfolg. Und als Schubert sich in der 83. Minute entschloss, nun Hazard einzuwechseln, bereitete dieser zwei Minuten später das Siegtor von Lars Stindl vor. "Wir haben einfach eine gute Qualität in diesem Bereich", sagte Schubert.