Süddeutsche Zeitung

Borussia Mönchengladbach:Die Punkteplünderer vom Niederrhein

Gladbach lernt flott: Ein mit schamlosem Catenaccio-Fußball erkämpfter Sieg macht das Gewinnen oft noch schöner.

Von Philipp Selldorf, Leverkusen

Rudi Völler wird die Zahl der Fußballspiele nicht kennen, die er in seinem Leben schon gesehen hat, aber dass diese Zahl viele Stellen hat, steht außer Frage (unter anderem wegen der italienischen Zweitliga- und deutschen Drittligaspiele, die er daheim am TV zu verfolgen pflegt). Dennoch ist es keineswegs so, dass der 59 Jahre alte Kenner alles über Fußball weiß. Am Samstag verließ der Sportchef von Bayer Leverkusen nach dem Spiel gegen Borussia Mönchengladbach jedenfalls ratlos die BayArena. Zum einen überforderte der brasilianische Linksverteidiger Wendell sein Verständnis ("es gibt keinen Bundesligaspieler, der so oft ausrutscht wie Wendell - das ist für mich ein Rätsel"), zum anderen laborierte er am Leiden über den Spielausgang, der seiner Meinung nach dem Spielgeschehen in keiner Weise gerecht wurde. Völler musste schon nach einer höflichen Formulierung suchen, um seinen Ärger über die 1:2-Niederlage und den daraus folgenden Stand der Dinge loszuwerden. Er habe die Gladbacher "schon mal besser gesehen", grantelte er, "sie machen ein mittelmäßiges Spiel - und jetzt sind sie Tabellenführer". Dass die Partie in einem Widerspruch endete - "der Gegner hat weniger Chancen und macht mehr Tore als wir" -, wusste er hingegen mit einem einzigen Wort zu begründen: "dem berühmt-berüchtigten" Wort "effektiv".

Tatsächlich gab es in der 74. Minute ein kleines Jubiläum für Leverkusen, auf der Anzeigetafel stand es schwarz auf weiß geschrieben: Bayer 10 - Borussia Mönchengladbach 0. Und zehn zu null Ecken, das war noch nicht das Ende der Geschichte. Am Ende hatten die Hausherren 13 auf ihrem Konto, und die Gäste mussten komplett eckenlos den kurzen Heimweg antreten, was ihnen aber ebenso wenig ausmachte wie neulich den Hoffenheimern, die sich Bayer nach Eckstößen sogar mit 0:19 hatten geschlagen geben müssen. Da sie nach Toren mit einem 0:0 heimfahren durften, war die TSG trotzdem zufrieden, wenn auch nicht so zufrieden wie die Gladbacher jetzt nach ihrem 2:1. Es herrschte Heimsiegstimmung in der BayArena, übermütig feiernde Borussen-Fans eigneten sich das fremde Haus an. So ein glücklicher, mit tausend Grätschen und schamlosem Catenaccio-Fußball erkämpfter Erfolg macht das Gewinnen manchmal noch schöner.

Man habe schon "das eine oder andere Quäntchen Glück gehabt", gestand Matthias Ginter, Mittelpunkt der Abwehrschlacht, die sein Team in der zweiten Hälfte geschlagen hatte. Jonas Hofmann, wie Ginter ein Rückkehrer aus dem in Gladbach reich gefüllten Verletztenlager, wollte den Erfolg nicht einfach als Arbeitssieg klassifizieren. "Es war ein dreckiger Arbeitssieg", präzisierte er. Er sah darin aber einen Fortschritt: Eben solche Siege habe man in den vorigen Jahren vermissen lassen.

Wie so viele Fußballspiele hatte auch dieses nicht nur zwei Spielhälften, sondern auch zwei unterschiedliche Ansichten. In der ersten waren die Gladbacher unbestritten das bessere Team, diszipliniert, ökonomisch organisiert und im rechten Moment zupackend, während Bayer nach Ansicht von Trainer Peter Bosz "die schlechteste Hälfte" spielte, seitdem er die sportliche Leitung innehat, also seit Beginn des Jahres. Obwohl sie ohne ihren schonungshalber pausierenden Chef-Antreiber Denis Zakaria antraten, gaben die Borussen zu erkennen, dass sie sich daran gewöhnt haben, als punkteplündernder Tabellenführer durchs Land zu ziehen - Platz eins als leistungsförderndes Rauschmittel. "Selbstbewusst, abgeklärt, extrem reif" - so erlebte Bayer-Kapitän Sven Bender den Gegner. Den Gladbachern genügten zwei ähnliche Momente, um ihre Tore zu erzielen. Das erste legte Marcus Thuram mit einer scharfen, flachen Hereingabe vom Flügel für Oscar Wendt auf (18.), das zweite bereitete Hofmann mit einer scharfen, flachen Hereingabe vom Flügel für Thuram vor (42.). Vor dem 0:1 war Bayers Verteidiger Wendell übrigens aus unerklärlichen Gründen ausgerutscht.

Ähnliches passierte auf der anderen Seite Matthias Ginter in prekärer Lage - mit dem maßgebenden Unterschied, dass Bayer-Mittelstürmer Lucas Alario die Chance zum 2:2 nicht nutzen konnte, weshalb sein Team während der zweiten Hälfte unentwegt diesem verpassten Treffer hinterherlaufen musste. Während sich die Borussen kurz vor der eigenen Torlinie versammelten und das Bemühen um Gegenangriffe komplett einstellten, vergab die Werkself in gewohnter Manier eine Reihe erstklassiger Chancen. VfL-Trainer Marco Rose behauptete trotzdem ungeniert, der Sieg sei "in der Summe nicht unverdient".

Bosz kannte keine Argumente, ihm zu widersprechen. Sein Team hatte sich nicht nur vergeblich verausgabt, sondern zum Ende auch noch selbst dezimiert: Flügelstürmer Leon Bailey, just zurück aus einer vierwöchigen Verletzungspause, darf gleich wieder in den Ruhestand eintreten, nachdem er wegen Nachtretens vom Platz gestellt wurde. "Dumm" nannte Bosz das Verhalten seines Spielers.

Selbstverständlich mussten die Sieger dann Fragen beantworten, ob sie sich nun auf geradem Weg zum Gewinn der deutschen Meisterschaft befänden. Es zeugt vom gehobenen Selbstwertgefühl am Niederrhein, dass diese Fragen von niemandem mit falscher Bescheidenheit zurückgewiesen wurden. Man fühle sich wohl an der Tabellenspitze, bekannte Nationalspieler Ginter. "Wir sind froh, dass wir immer noch oben stehen", sagte er, "aber ich glaube nicht, dass irgendwer in unserer Kabine Anstalten trifft, die Meisterschaftsfeier zu planen."

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Quelle:
SZ vom 04.11.2019
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