Süddeutsche Zeitung

Tabellenführer Gladbach:Renaissance des Fohlen-Stils

Mit Aufbruch und Vision wie einst in den Meisterschaftsjahren: Nach einem radikalen Strategiewechsel führt Mönchengladbach die Bundesliga an. Die Frage ist, wie lange die Retro-Borussia das durchhalten kann.

Kommentar von Klaus Hoeltzenbein

Anfang April unternahm Max Eberl eine Dienstfahrt, deren Motiv auf Anhieb nicht jeder verstand. Doch Gladbachs Sportdirektor sah sich zum Handeln gezwungen. In Bad Nenndorf nahe Hannover teilte er Dieter Hecking, dem damaligen Trainer, auf dessen kernsaniertem Bauernhof mit, dass die Borussia ab der folgenden Saison ohne ihn plane. Es soll, gemessen an der langen Anreise, ein sehr kurzes, sehr emotionales Scheidungsgespräch gewesen sein, durchaus mit etwas Wasser in den Augen. Aber es habe sich um eine "strategische Entscheidung" gehandelt, rechtfertigte sich Eberl später, man habe "etwas anderes" machen wollen: "Es steht mir doch zu, eine Neuausrichtung anzustreben."

Herausgekommen ist einer der radikalsten Strategiewechsel in der Historie der Bundesliga. Der komplexe Prozess in aller Kürze: Trainer Hecking predigte vormals der technisch durchaus beschlagenen Borussia den Ballbesitz-Fußball, bei dem man allerdings Gefahr läuft, derart stolz auf den puren Besitz zu sein, dass man das Ziel aus den Augen verliert. Sein Nachfolger, Marco Rose, stammt aus der sogenannten Bullen-Schule, die stilprägend bei RB Leipzig und RB Salzburg unterrichtet wird, beides Teams, die es bis in die Champions League geschafft haben. Den Ball dürfen laut Lehre der Bullen-Schule ruhig mal die anderen hin und her schieben; sobald er dann aber im Rudel erobert ist, muss es zack-zack aufs Ziel zu gehen. Dieser Überfall- und Überraschungseffekt ist der Kern des Plans.

Es ist der ewige Versuch, eine Antwort auf den Starfußball der Großen zu finden. Es ist eine Underdog-Strategie, die jedoch, sobald sie funktioniert, überaus selbstbewusst daherkommen kann (das Vorbild ist Klopps FC Liverpool). "Wir machen grundsätzlich alles übers Team", betonte Rose nach der Behauptung der Tabellenführung seine Grundidee: "Bei uns macht es schon die Summe aller."

Stärken werden betont, Schwächen getarnt. Weil das gelingt, befindet sich Borussia plötzlich auf einer Reise in die Vergangenheit. Dies nicht nur, weil die Tabelle wie Mitte der Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts blinkt: 1. Mönchengladbach, 2. FC Bayern ....! Damals droschen sie in der Kleinstadt am Niederrhein die großen Verse: "Netzer, Vogts und Heynckes, Jupp - holen den Europacup."

In jenen Zeiten waren die politischen Verhältnisse noch so eindeutig, dass sie auf dem Rasen gespiegelt werden konnten. Wer konservativ dachte und den C-Parteien nachhing, war eher den Bayern zugeneigt. Wer sich nach Aufbruch und Visionen sehnte, sympathisierte mit Borussia und entdeckte in Netzers wallender Blondmähne das Symbol von Freiheit und Abenteuer. Fohlen wurden die jungen Gladbacher des Trainers Hennes Weisweiler genannt, weil ihr dynamischer Konterfußball dem Sturm und Drang der Zeit entsprach. In der Rückschau war dieser Außenseiterstil eine Art Vorstufe zum neuen Überfallkonzept.

Die Frage ist jetzt, wie lange die Retro-Borussia das alles durchhalten kann. Die Verletztenliste wird länger, und Roses Abenteuerfußball birgt gewaltige Risiken - in der Kennenlernphase gab es gar ein Heimspiel-0:4 in der Europa League gegen eine Elf namens Wolfsberger AC aus Kärnten. Wenig später aber wecken die neuen Fohlen bereits vielerorts Begehrlichkeiten. Es ist ohnehin erstaunlich, dass auf einem von den Scouts des Planeten generalüberwachten Transfermarkt einer wie der Schweizer Denis Zakaria, 22, weiterhin das weiße Trikot der kleinen Borussia und kein anderes trägt. Jetzt hält Zakaria im Stil von Frankreichs Weltmeister Paul Pogba als eine Art Borussen-Pogba das Experiment im Mittelfeld zusammen. Auch dies ein Glücksfall, der dazu beiträgt, dass sie am Niederrhein ihre Revival Party feiern können.

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SZ vom 29.10.2019/jki
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