Süddeutsche Zeitung

Borussia Dortmunds Großkreutz:Kevin Überall

Kevin Großkreutz ist so großer Dortmund-Fan, dass er die Skyline der Stadt auf die Wade tätwowiert hat. Auf dem Fußballplatz wirkt der 25-Jährige oft ungelenk, doch seine Spielintelligenz und Vielseitigkeit machen ihn zu einem der wertvollsten Fußballer im System von Trainer Klopp.

Von Freddie Röckenhaus, Dortmund

Als neulich die Trainerlegende Rudi Gutendorf bei Markus Lanz im ZDF plauderte, tippte Kevin Großkreutz in Dortmund schon eine SMS an seinen Trainer, an Jürgen Klopp. "Der hat Ahnung!", schrieb Borussia Dortmunds Profi zu später Stunde, denn Gutendorf, inzwischen 87 Jahre alt, die alte Krokotasche unter den Fußball-Lehrern, versicherte dem staunenden Wetten-dass-Moderator: "Der beste, der wertvollste unter den Fußballern heute, das ist der Großkreutz." Es soll noch ein paar Mal hin und her gefunkt haben zwischen Großkreutz und Klopp, dann schickten sich beide gegenseitig per SMS ins Bett.

Es läuft gerade gut für Kevin Großkreutz, geboren in Dortmund, Sohn eines ehemaligen Zechen-Schlossers, Fan der Borussia und dort auch Stammkraft bei seinem Lieblingsverein. 17 Pflichtspiele hat der BVB in dieser Saison bestritten, das nächste steht an diesem Mittwoch in den Champions League gegen den FC Arsenal an - und Großkreutz hat bislang noch keine Minute verpasst. Sogar im Derby gegen Schalke, bei dem er meist so aufgeregt ist, dass er schlecht spielt, hat es geklappt. 3:1 gewonnen, gute Noten für Großkreutz. Weihnachten kommt dieses Jahr sehr früh.

Man könnte sagen: Dortmunds heimatverbundenster Profi profitiert davon, dass Lukasz Piszczek seit dem Sommer ausfällt und er dessen Posten als rechter Verteidiger übernehmen konnte. Andererseits: Warum spielt Großkreutz die ungewohnte Rolle gleich so gut, dass selbst neutrale Instanzen wie Lothar Matthäus oder Jens Lehmann Bundestrainer Joachim Löw ans Herz legen, Dortmunds Allrounder mit zur WM nach Brasilien zu nehmen? Weil vielleicht doch etwas dran ist an Gutendorfs Einschätzung?

Jürgen Klopp predigt seit langem, dass Großkreutz "ein kleines taktisches Genie" sei. Spielmacher Nuri Sahin drückt es so aus: "Kevin hat eine unglaubliche Spielintelligenz." Großkreutz kann so ziemlich jede Position in Klopps System übernehmen - zumindest vertretungsweise. Es gab schon Spiele, da wechselte Kevin Überall, wie sie ihn in Dortmund nennen, innerhalb ein und desselben Spiels dreimal die Position. Und als am Ende der vergangenen Saison der Torwart Roman Weidenfeller mal vom Platz flog - wer ging da ins Tor? Großkreutz natürlich. "Es hat mich geärgert, dass ich den Elfmeter dann nicht halten konnte", sagte er trocken.

Öffentliches Sprechen ist sonst nicht die größte Stärke von Kevin Großkreutz. Bei Dortmunds Meisterfeiern 2011 und 2012 krächzte er zwar einige Fan-Hymnen ins Mikrofon (Textprobe: "Kommste abends besoffen nach Haus."), aber bei Interviews begnügt er sich oft mit Aussagen wie: "Wir sind einfach eine geile Truppe. Wir hauen immer alles raus." Die Schlichtheit mancher Statements muss man wohl so einschätzen, wie die Maulfaulheit mancher Tüftler und Ingenieure, die mit hoher Intelligenz in ihrem Fach arbeiten, aber nur ungelenk darüber reden.

Auf dem Platz spielt Großkreutz seine Intelligenz aus, ein nach inzwischen allgemeiner Ansicht phänomenales Raumgefühl, eine herausragende Spielantizipation. Auch wenn er im Vergleich zu Dortmunder Extrem-Technikern wie Reus, Sahin oder Mkhitaryan ungeschliffen wirkt: Bei den meisten Bundesliga-Klubs würde man sich die Finger nach einem Techniker wie ihn lecken. Obendrein gilt er als interner Integrations-Experte: Egal, ob mit dem Japaner Kagawa, dem Armenier Mkhitaryan oder dem Franzosen Aubameyang: Großkreutz pumpt seine ortsunkundigen Mitspieler so lange mit Vereinsliedern und Lokalkolorit voll, bis sie sich selber wie Kumpels fühlen. Eine Zeitlang jedenfalls. In welcher Sprache ihm das gelingt, ist immer ein Geheimnis.

Großkreutz stammt aus Eving, einem Arbeiter-Stadtteil, der früher von der Zeche und der dreckspeienden Kokerei Minister Stein lebte. Die Zeche, die letzte, die in Dortmund dicht machte, Jahre bevor der heute 25jährige Kevin geboren wurde, ist verschwunden, von der Kokerei sind nur der wuchtige Hammerkopfturm und ein paar andere Museumsstücke übrig. Der Ruß aber sitzt immer noch in den Fassaden von Eving, wo die SPD früher 80 Prozent der Wählerstimmen holte und sich heute die Ein-Euro-Läden aneinanderreihen. Kevin Großkreutz hat mit seinen ersten Profi-Gehältern zwei Doppelhaushälften gekauft: "Eine Hälfte für meine Eltern und meinen kleinen Bruder, die andere für mich."

In der vorigen Saison sah Großkreutz oft traurig aus. Für einen wie ihn, der sich die Skyline seiner Heimatstadt Dortmund auf die Wade hat tätowieren lassen und selbst als Jungprofi beim damaligen Zweitligisten Rot Weiss Ahlen noch auf der Südtribüne die BVB-Spiele verfolgte, war es grausam, nicht oft zum Zuge zu kommen. Gegen das Mittelfeld mit Reus, Götze und Blaszczykowski kam er nicht an. Seine an sich nicht schlechten Offensiv-Qualitäten verkümmerten. Kurz vor Weihnachten ist er mit ein paar Kumpels nach Glasgow geflogen, Celtic gucken, den Klub, mit dem der BVB eine Fan-Freundschaft pflegt. Man hat ihn nachher im Pub erkannt und ordentlich gefeiert. So einen wie ihn hätten sie auch gerne in Schottland oder England. Einer, der im Wortsinn einer von ihnen ist.

Mannschaftskapitän Sebastian Kehl hat an Großkreutz dennoch einen Wandel festgestellt: "Kevin ist professioneller geworden, er lebt jetzt mehr für seinen Körper." Trainer Klopp sagt: "Kevin hat viele Einheiten im Kraftraum gemacht. Als er Verteidiger spielen sollte, kam ja auch das Einwerfen auf ihn zu. Anfangs kam er ungefähr drei Meter weit." Inzwischen hat Großkreutz Muskeln zugelegt, neuerdings spricht er sogar: in einer Kaugummi-Reklame. Wobei die Regie die Pointe dann aber doch lieber Mats Hummels überlassen hat.

Auf seiner Facebook-Seite schreibt Großkreutz kaum ein Wort, stellt aber lauter Fotos ein. Eins zeigt ihn beim Bankdrücken im Kraftraum, viele sind Schnappschüsse von ihm und seinem Bruder Lenny, die meisten zeigen ihn mit Marco Reus, ebenfalls ein gebürtiger Dortmunder. Reus und Großkreutz, beide seit ihrem neunten Lebensjahr beim BVB, wurden mit 15 von Jugendtrainern weggeschickt, spielten dann gemeinsam in Ahlen, pendelten zu jedem Training, B-Jugend, A-Jugend, 2. Bundesliga. Die Handyfotos von den beiden strahlen etwas aus, was Worte kaum ausdrücken können: Den gemeinsamen Traum, es mit den Lieblingskumpels beim Lieblingsverein bis an die Spitze zu schaffen. Worte braucht es dazu nicht.

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SZ vom 06.11.13/fued
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