84 Minuten dauerte es, dann wurde aus dem Mut des VfB Stuttgart Übermut. Eine eigene Ecke gingen die Schwaben so an, als stünde man nicht auf dem 16. Tabellenplatz und als stünde es nicht 1:1 im Spiel gegen den Tabellenzweiten, sondern eher so, als wäre ein Sieg in Dortmund das einzig hehre Ziel: Der VfB sicherte sich und sein bis dahin herausragendes Spiel nicht ausreichend ab, was dann zum Ärgernis wurde, als der Dortmunder Steffen Tigges im Strafraum an den Ball kam und einen Pass spielte, der letztendlich dafür sorgte, dass der VfB Stuttgart tiefer in den Abstiegskampf rutscht - und Borussia Dortmund nach dem 2:1-Sieg im Meisterschaftskampf wieder mit dabei ist.
Tigges' Pass aus dem Strafraum leitete den besten Spielzug des BVB an diesem Samstagnachmittag ein, der gleichzeitig auch darlegte, womit sie sich in Dortmund momentan am wohlsten fühlen: Raum zum Kontern. Der lange Ball aus der eigenen Hälfte heraus gelangte zu Marco Reus, der Thorgan Hazard bediente. Hazards Abschluss konnte der Stuttgarter Torwart Florian Müller noch parieren, den Nachschuss von Reus jedoch nicht mehr und wäre Reus nicht da gewesen hätte den Abpraller wohl ein anderer Dortmunder verwertet: Sechs BVB-Spieler waren innerhalb von wenigen Sekunden vom eigenen in den gegnerischen Strafraum gesprintet, mit der Freude am Raum. Am euphorischsten jubelte trotz sichtlich schwerer Atmung der nicht allzu sprintfreudige Mats Hummels.
"Am Ende war eben ein Konter nach gegnerischer Ecke entscheidend, um das Ergebnis zu bekommen", sagte Hummels nach dem Spiel bei Sky, seinen Atem hatte er da wieder unter Kontrolle, genauso wie seine Euphorie: "Nach dem 1:1 haben wir nicht groß geglänzt", sagte der Innenverteidiger kritisch. Und: "Wir hatten zwischendurch wieder diese Phase, wo wir zu viele Ballverluste hatten." Die Kritik des Dortmunders am eigenen Spiel war durchaus berechtigt, denn bis auf den beachtlichen Konter kam vom BVB über die 90 Minuten eigentlich zu wenig, um sich zum gefährlichen Bayern-Verfolger zu erklären.
Offene Partie zwischen Spitzenteam und Abstiegskandidat
Die Stuttgarter bedrängten den BVB von Anfang an mit einer mutigen, aggressiven Zweikampfführung und hatten auch in der eigenen Hälfte die Courage, spielerische Lösungen zu finden. Dem hatte das Dortmunder Pressing erstaunlich wenig entgegenzusetzen, zwischen dem tabellarischen Spitzenteam und dem Abstiegskandidaten entwickelte sich eine offene Partie mit Chancen auf beiden Seiten: Reus' Freistoß (7. Minute) und Donyell Malens Kopfball (13.) hätten dem BVB die Führung bringen können, die beste Gelegenheit hatte jedoch Stuttgart. Tanguy Coulibaly kam in der 38. Minute nach Vorlage von Orel Mangala an den Ball, Gregor Kobel im Dortmunder Tor zeigte eine Glanzparade.
"Ich finde, dass wir mit dem Ball in der ersten Halbzeit zu fehlerhaft waren", sagte BVB-Trainer Marco Rose nach dem Spiel, es war jedoch vor allem der Mangel an Kreativität und Wucht vor dem gegnerischen Tor, der etwas besorgniserregend war. Dass im Offensivkontext weiterhin der verletzte Erling Haaland fehlt, ist dem BVB jedenfalls in so gut wie jeder Aktion anzumerken. Gegen den VfB übernahm Malen den Job als Sturmspitze, ließ sich aber ein ums andere Mal von der Stuttgarter Verteidigung abblocken - bis er genau davon in der 56. Minute profitierte: Hiroki Ito fälschte Malens Schuss noch entscheidend ab, das 1:0 war der erste Bundesligatreffer des Niederländers.
Sechs Minuten später jedoch folgte einer der von Hummels thematisierten Ballverluste: Der aufgerückte Innenverteidiger Manuel Akanji wurde von Stuttgarts Philipp Förster bedrängt und verlor den Ball, Atakan Karazor fand dann die Lücke in der Dortmunder Viererkette und Roberto Massimo ließ Hummels im Zweikampf frech mit einem Haken stehen, um dann gekonnt an Kobel vorbei zum 1:1 einzuschieben (63.). Dortmund reagierte, auch wenn die ganz großen Chancen eher zufällig entstanden, so wie bei Akanjis Distanzschuss, der in der 67. Minute an die Latte abgefälscht wurde.
Der BVB wackelt zwar, holt aber die Punkte
Um in der Tabelle auf einen Punkt an den FC Bayern - in zwei Wochen zu Gast in Dortmund - ranzukommen, brauchte der BVB schließlich eine Prise schwäbische Naivität in der Konterabsicherung. Dennoch kristallisiert sich in dieser Hinsicht gerade eine gewisse Qualität der Dortmunder Mannschaft heraus: "Wir sind auf einen Punkt dran, haben keine einfache Phase und kämpfen in der Bundesliga um unsere Punkte", sagte Rose bei Sky. Der BVB holt diese Punkte allerdings bislang, neun Siege aus zwölf Spielen sind eine solide Bilanz. Hummels pflichtete dem bei: "Es war wichtig, dass wir die drei verlorenen Punkte von vor zwei Wochen wieder aufholen konnten."
Den Zusatz "um weiterhin Meister werden zu können" schenkte sich Hummels allerdings, genauso wie Rose wird auch er wissen: Um nicht nur an den Bayern dranbleiben zu können, sondern um an ihnen möglicherweise auch vorbeizuziehen, muss der BVB dringend anfangen, besser Fußball zu spielen.