Borussia Dortmund:Tuchel experimentiert wie ein Nerd

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Fokussiert und nerdig: Thomas Tuchel (Foto: imago/DeFodi)
  • Der erstaunlich glückliche Sieg gegen Bremen offenbart die Schwächen der Dortmunder Mannschaft in dieser Saison.
  • Für Trainer Tuchel ist diese eine große Herausforderung.
  • Mit dem 17 Jahre alten Schweden Alexander Isak kommt ein weiteres Talent zum BVB.

Von Ralf Wiegand, Bremen

Von der Tribüne aus betrachtet ist dieser Thomas Tuchel schon eine irgendwie skurrile Figur. Da steht er an der Seitenlinie, seine streichholzdünnen Beine stecken in irgendwie zu kurzen Hosen, aus denen unten gelbe Socken leuchten. Tuchel hat dadurch etwas von einem Nerd, wie man heute sagt, sehr fokussiert, wie man heute auch sagt. Bei einem wie ihm ist immer beides möglich: Dass die Hose einfach eingelaufen ist, oder dass sie die allerneueste Mode darstellt, die der Rest der Welt nur noch nicht verstanden hat.

Tuchel, der Selbst- und Mannschafts-Optimierer, trägt andererseits sein Herz auf der Zunge. Das unterscheidet ihn gewaltig von den üblichen Nerds, die sich gar nicht erst die Mühe machen, zu erklären, was in ihrem Kopf vorgeht. Wozu auch, versteht außer ihnen eh keiner. Tuchel hat sich in Dortmund fast zu einer Plaudertasche entwickelt. In der Nische von Mainz, seiner vorherigen Arbeitsstelle, war ihm eine Akribie, die von Verbissenheit manchmal nicht mehr zu unterscheiden war, nachgesagt worden. Im hochemotionalen Dortmund, fürchteten Kenner, könnte ihm das zum Verhängnis werden. Wird es aber nicht: Tuchel hat längst die Fähigkeit erlangt, die Faktoren im Spiel zu akzeptieren, die er nicht beeinflussen kann - und wenn es nicht so sein sollte, dann tut er wenigstens sehr überzeugend so.

"Vielleicht müssen wir akzeptieren", sagte Thomas Tuchel nach dem erstaunlich glücklichen 2:1-Sieg in Bremen, "dass wir diese Stabilität nicht haben, anstatt ihr hinterherzulaufen." Vielleicht sei es besser, sich über so einen Sieg auch mal zu freuen, "froh zu sein darüber, nicht mit einem Unentschieden heimzufahren, wie uns das auch schon oft genug passiert ist". Tuchel ordnete ungetrübte Freude an und gab selbst den Vorlächler.

Tuchel hätte mit einigem Recht auch sauer sein können, weil die Fragen nach dem sehr unterhaltsamen, hektischen, in vielen Phasen fast böswillig unberechenbaren Spiel auf eine gewisse Schwäche von Borussia Dortmund zielten. Da hatten sie gewonnen bei einer zuletzt fünf Mal nacheinander ungeschlagenen Mannschaft, waren "immerhin in der Lage, 22 Mal aufs Tor zu schießen", wie Tuchel aus den Augenwinkeln rasch vom Statistikbogen ablas, und doch transportierten alle Fragen nach dem Spiel die Zweifel mit, wie die Dortmunder das verbriefte Ziel der direkten Champions-League-Qualifikation garantieren wollen.

"Diese Ansprüche", sagte Tuchel sanft, "akzeptiert man in Dortmund mit der Vertragsunterschrift", er verwies eher in einem Nebensatz auf den größten Umbruch im Team in den vergangen zehn Jahren und beschwor die Kraft des schmutzigen Sieges: Die Erfahrung von Bremen "wird uns helfen".

Es war schon erstaunlich, wie die Dortmunder, die das Spiel so hoch überlegen begonnen hatten, sich von Werder im Laufe der Zeit zu Fehlern hatten verleiten lassen. 6:0 Torschüsse, 77 Prozent gewonnene Zweikämpfe, eine Führung aus der fünften Minute durch das erste Saisontor von André Schürrle: 20, 25 Minuten lang schnurrte das Dortmunder Spiel so störungsfrei, als hätte es die ersten sechzehn Siebzehntel der Hinrunde mit nur zwei Auswärtssiegen nicht gegeben.

Dazu musste Werder Bremen erst Serge Gnabry auswechseln, dem irgendetwas, vielleicht die eigene Leistung (Fehler vor dem 0:1!), auf den Magen geschlagen war und der wegen Übelkeit ausgewechselt werden musste; dann verließ auch noch Claudio Pizarro den Platz. Er wurde geopfert, weil Torwart Jaroslav Drobny glaubte, das 0:2 nur verhindern zu können, indem er Marco Reus 18 Meter vor dem Tor die Stollen in die Hüfte nagelt.

Das ist es, was die Zweifel an der Dortmunder Stabilität begründet: dass die Mannschaft gegen eine Bremer Elf, die ihren nominell besten Spieler, ihren amtlich raffiniertesten Stürmer und ihren routinierten Stammtorwart allesamt in der ersten Halbzeit verliert und 50 Minuten in Unterzahl spielen muss, jegliche Souveränität verliert. Ein Super-Solo von Fin Bartels zum 1:1 (59.), ein Lattentreffer von Clemens Fritz, eine Großchance im Verbund des sehr starken Zugangs Thomas Delaney mit dem Finnen Niklas Moisander sowie eine druckvolle allerletzte Schlussphase machten einen Dortmunder Punktverlust jederzeit möglich. Letztlich hielten aber der Vorsprung durch das Tor des polnischen Rechtsverteidigers Lukasz Piszczek (71.) und Tuchels Lächeln.

So eine Partie, in der einem alles in die Karten spielt, abgeklärt, souverän und ruhig nach Hause zu bringen, "würde man eher einer erfahrenen Mannschaft zuschrieben", sagte Tuchel, "die schon einige Schlachten geschlagen hat". Seine Elf, extrem jung, stehe eher für etwas anderes. Trotzdem muss es den hageren Strategen nahe an die Grenze des Wahnsinns treiben, wenn ein Spiel, über das er sich vorher so viele Gedanken macht, plötzlich und unerwartet in eine eher vogelwilde Feldschlacht umschlägt.

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Er hat später genau analysieren können, welcher Bremer in welcher Situation auf welcher Position auftaucht (und warum deshalb zum Beispiel Mario Götze nicht spielte), er lässt die Öffentlichkeit gerne teilhaben an seinen Versuchen, den Zufall zu minimieren. Aber die Erfahrung kann er dem Team nicht antrainieren, das in seiner offensiven Genialität bisweilen, wie nun in Bremen, selbst keinen Wert auf Stabilität zu legen scheint.

Erfahrung für die Defensive könnte man einkaufen, Tuchel allerdings sieht da niemandem mehr in der verbleibenden Transferwoche: "Was wir suchen, ist allerhöchstes Niveau. Diese Spieler sind nicht auf dem Markt." So kurzfristig denkt einer wie Tuchel auch nicht, der Züge gerne wie ein Schachspieler vorausberechnet und weniger gern nur reagiert. Sein Blick geht weiter: Denn seit Montag ist der Transfer von Alexander Isak zu Borussia Dortmund perfekt. Wie der Bundesligist mitteilte, wurde der 17 Jahre alte schwedische Nachwuchsstürmer Alexander Isak von AIK Solna "mit einem langfristigen Vertrag ausgestattet". "Alexander Isak ist ein hochkarätiges Sturmtalent, das zahlreiche europäische Topclubs verpflichten wollten. Der BVB ist genauso wie der Spieler absolut überzeugt davon, dass dieser Transfer einer mit großer Perspektive ist", sagte Sportdirektor Michael Zorc.

Weil Isak noch nicht volljährig ist, sei "zur Abwicklung des Transfers allerdings noch eine gesonderte Zustimmung des Fußball-Weltverbandes FIFA erforderlich, die alle Parteien zeitnah erwarten". Über die Höhe der Ablöse vereinbarten beide Seiten Stillschweigen. Dem Vernehmen nach war der 1,90 Meter große Angreifer, der in seiner Heimat als Nachfolger von Superstar Zlatan Ibrahimovic gehandelt wird, der Borussia neun Millionen Euro wert. Das Experiment des Nerds Tuchels geht weiter.

© SZ vom 23.01.2017/dpa - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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