Süddeutsche Zeitung

Borussia Dortmund:Meister im Zaudern

Nach dem brillanten Sieg in Leipzig erkennen die Dortmunder abermals: Es wäre für sie mehr drin gewesen in dieser Spielzeit.

Von Javier Cáceres, Leipzig

So richtig wussten die Dortmunder nicht, was sie damit anfangen sollten, dass alle Welt sich um sie zu scharen schien und um Erlaubnis bat. Und zwar um die Erlaubnis, sie zu einem Titel zu beglückwünschen, der offiziell keiner ist und nicht viel mehr auslöst als Melancholie. 2:0 (1:0) hatten sie in Leipzig gewonnen und sich damit den zweiten Platz in der Endabrechnung der Saison gesichert, landläufig (aber nicht korrekt) Vizemeister genannt.

Glückwunsch also?

"Pffft ...", entfuhr es etwa BVB-Stürmer Julian Brandt, der nicht so recht fündig wurde, als er in seinem Inneren danach forschte, wie sich das wohl so anfühlt: "Ist jetzt nix Besonderes." Im Grunde ließ sich nur Trainer Lucien Favre aus der Reserve locken. Denn nachdem er den zweiten Platz als "gut" apostrophiert hatte, hörte er im Post-Match-Interview ein Echo, das ihm nicht behagte. Das Echo lautete: "Aber nicht sehr gut." Da ging Favre an die Decke, zumindest für seine Verhältnisse. "Warum?", fragte er höflich, aber offenkundig irritiert zurück. Tja, warum?

Vermutlich, weil sich angesichts der Brillanz im Vortrag der Dortmunder vom Samstag der Gedanke kaum unterdrücken ließ, dass übers Jahr gesehen mehr drin gewesen wäre. Stattdessen zeichnete der BVB im Meisterschaftskampf mit dem FC Bayern schon Ende Mai die Kapitulation.

"Klar fragt man sich: Warum kann man nicht einfach jedes Spiel gewinnen, ist ja einfach", ironisierte Brandt, ehe er wieder Ernst walten ließ: "So ist es im Leben leider doch nicht." Der Rückblick auf die vergangene und der Ausblick auf die kommende Saison aber geriet ihm so abwägend, ja leisetreterisch, dass man all das Zaudern der Dortmunder heraushören konnte. Man wolle im kommenden Jahr "wieder das Ziel, was wir uns ein bisschen, ja, vorgenommen haben, erreichen", sagte Brandt. Wie erfrischend da sich doch die Direktheit von Torjäger Erling Haaland ausnahm: "Ich will Meister werden."

Champions-League ohne Werner - Leipzig zeigt Verständnis

Zumal die Partie in Leipzig einen Beleg dafür bot, dass der BVB sehr wohl imstande ist, Schlüsselspiele zu gewinnen. Daran hatte man nach dem Pokal-Achtelfinale bei Werder Bremen (2:3) Zweifel bekommen können; ebenso beim 0:2 in der Champions League (nach 2:1-Hinspiel-Sieg) gegen Paris, spätestens nach dem 0:1 gegen Bayern München im ersten Post-Corona-Pausen-Topspiel. In Leipzig stand nicht nur der zweite Platz in der Abschlusstabelle beim direkten Rivalen auf dem Spiel, sondern nach der 0:2-Pleite gegen Mainz 05 vom Mittwoch vor allem das eigene Ansehen. Und der BVB nahm das nicht nur an, sondern beeindruckte dadurch, dass er Antworten im Fußball suchte (und fand), Chancen herausspielte, statt plakativ Sekundärtugenden zu bemühen.

"Ich hätte fünf Tore schießen können", bilanzierte Dortmunds norwegischer Stürmer Haaland, nachdem er immerhin zwei Mal getroffen hatte (30./90.+2). Bei beiden Toren war Innenverteidiger Mats Hummels beteiligt, der das Spiel mit beckenbaueresker Qualität organisierte, unter anderem vor dem ersten Tor ein betörendes Solo hinlegte. Er ließ vor dem eigenen Strafraum die Leipziger Forsberg, Werner und Kampl ins Leere laufen, schickte Brandt auf der rechten Seite auf eine lange Reise und ermöglichte so, dass der Ball über den Startelf-Debütanten Giovanni Reyna bei Haaland landete. Haalands zweites Tor war die Krönung eines exzellenten Konters, den Hummels mit einem Sieg im Kopfballduell einleitete.

Dass ein Teil der Wahrheit vom Samstag auch darin bestand, dass Leipzig eine überaus schlechte erste Hälfte spielte und diesen Eindruck erst nach der Pause korrigierte - geschenkt. Es war RB auch insofern egal, als Herthas Sieg gegen Leverkusen die Qualifikation für die kommende Champions League sicherte. "Ob man in der Bundesliga Zweiter oder Vierter wird, ist eigentlich egal. Es geht darum, wer Erster ist", sagte Trainer Julian Nagelsmann, "wir haben noch einige Schritte zu gehen. Und damit meine ich nicht nur die Spieler, sondern den ganzen Klub. Das dauert ein paar Transferperioden", fügte er hinzu.

Diese Schritte wird er nun ohne Timo Werner gehen, der wechselt ja für rund 53 Millionen Euro zum FC Chelsea. Der Stürmer schwieg am Samstag, wohl aus Verdruss um die Debatte um seinen Verzicht auf das Finalturnier der Champions League, das im August in Lissabon stattfindet. Altstars wie Stefan Effenberg und Lothar Matthäus unterstellten ihm im Grunde, lieber dem Geld als einem Ball und dem Ruhm hinterherzulaufen - zum Ärger von Karl-Heinz Förster, dem früheren Nationalspieler und Berater Werners.

"Es wäre für Timo alles andere als ein guter Start bei seinem neuen Klub gewesen, wenn er nach dem Urlaub erst noch für die Vorbereitung und die Champions League nach Leipzig hätte zurückzukehren sollen", sagte Förster bei Sport1. Auch Leipzigs Chef Oliver Mintzlaff übte Solidarität mit Werner. "Da stellen wir uns klar hinter Timo Werner. Er ist ein absoluter Sportsmann, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen." Vermissen werden sie ihn in Lissabon trotzdem.

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SZ vom 22.06.2020
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