Süddeutsche Zeitung

Champions League:Stolz im Frust

Der BVB weiß nicht, was er nach dem 1:2 bei ManCity fühlen soll. Auf eine der besten Saisonleistungen kommt ein spätes Gegentor, ein bitterer Schiedsrichter-Pfiff - und die Frage, wo man in der Liga stünde, wenn man immer so spielen würde.

Von Ulrich Hartmann

Nach dem Spiel, im Kabinengang, sah Erling Haaland noch Gelb-Rot. Der Schiedsrichter-Assistent Octavian Sovre aus Rumänien hielt ihm beide Karten hin: erst die gelbe, dann die rote sowie einen Kugelschreiber - damit Borussia Dortmunds Stürmerstar auf beiden unterschreiben konnte. Haaland signierte brav. Die Expertenrunden der britischen TV-Sender indes waren außer sich. Kein Schiedsrichter und auch kein Assistent sollte sich als Autogrammjäger outen. Dass in England zunächst kein größerer Skandal daraus gemacht wurde, dürfte daran liegen, dass es nicht die Fußballer von Manchester City waren, denen kurz vor der Pause ein reguläres Tor verweigert worden war - sondern jene aus Dortmund.

Frust und Stolz begleiteten die Borussen auf ihrem Heimflug. Stolz waren sie auf eine bemerkenswerte Leistung im Spiel bei Europas zurzeit vielleicht stärkster Mannschaft, stolz sogar auf eine unglückliche 1:2-Niederlage, weil diese für das Viertelfinal-Rückspiel am nächsten Mittwoch noch alle Chancen lässt. Frust schoben sie aber zugleich über das 1:2-Gegentor in der 90. Minute sowie über das besagte abgepfiffene Tor durch Jude Bellingham in der 37. Minute. Und über allem thronte der Frust darüber, dass der BVB in der Bundesliga gewiss locker auf Champions-League-Kurs wäre, wenn er dort häufiger so gespielt hätte wie jetzt in Manchester. "Wir reden so oft davon, dass wir Kontinuität brauchen", sagte der Kapitän und Torschütze Marco Reus. "Aber wir kriegen es in dieser Saison nicht hin."

So durften sich die Dortmunder für ihre Leistung in Manchester auf die Schultern klopfen und mussten sich darob zugleich über so viele Bundesliga-Spiele in dieser Saison ärgern. Denn mit sieben Punkten Rückstand auf den relevanten vierten Platz sind die Chancen auf die neuerliche Qualifikation für die Champions League schlecht. Der BVB droht jenen Wettbewerb zu verpassen, den die Spieler dieses Kaders offenbar benötigen, um sich zu Höchstleistungen zu motivieren. Ohne Champions League werden sie sich fühlen wie Alpinisten im Flachland, Grillfanatiker im Gemüsegarten, Adrenalinjunkies auf dem Kettcar.

"Genau so will ich uns sehen, so eine Leistung hat man von Borussia Dortmund zu erwarten", sagte Innenverteidiger Mats Hummels. "Aber das ist ja leider unser Thema: So etwas sollte nicht nur auf der großen Bühne möglich sein." Im sehr beweglichen 4-3-3 ließen die Dortmunder den Engländern kaum Räume zur Entfaltung. Das 0:1 (19.) durch Kevin De Bruyne läutete Emre Can durch einen Fehlpass ein. Den eigentlich regulären Ausgleich, als Bellingham Manchesters Torwart Ederson den Ball stibitzte, pfiff der rumänische Schiedsrichter fatalerweise ab und zeigte Bellingham auch noch Gelb. Ein Videobeweis wäre nur möglich gewesen, wenn der Referee den Dortmunder wenigstens noch ins leere Tor hätte einschießen lassen. Doch er pfiff ihn vorher zurück. Ärgerlich für die Dortmunder.

Es wäre ein wichtiges Tor für den BVB gewesen und das erste in der Champions League für den 17 Jahre alten Mittelfeldspieler. Er hat vermutlich nicht zufällig in seinem Heimatland sein bislang bestes Spiel im schwarz-gelben Trikot absolviert. Unermüdlich und damit bezeichnend für die ganze Mannschaft rannte das im vergangenen Sommer von Birmingham City gekommene Talent gegen die ballversierten Citizens an. Als der Schiedsrichter ihn in der 37. Minute kurz vor dem Einschuss zurück trillerte, griff sich Bellingham mit beiden Händen an den Kopf - das international gültige Zeichen für Fassungslosigkeit.

So dauerte es bis zur 86. Minute, ehe Reus auf Vorlage von Haaland das hochverdiente 1:1 erzielte. Es war Citys erstes Gegentor in der Champions League nach 13 Stunden und 10 Minuten. Ein 1:1 als Endstand hätte den Dortmundern viel bedeutet: Anerkennung, eine gute Halbfinal-Chance und eine gewisse Rehabilitation für so viele enttäuschende Leistungen in der Bundesliga.

Doch in der 90. Minute bereitete Ilkay Gündogan nach einer der berüchtigten City-Halbfeldflanken das 2:1 durch Phil Foden vor. "Extrem ärgerlich!", klagte Hummels. "So schade!", jammerte Reus. "Brutal ärgerlich!", schimpfte Trainer Edin Terzic. "Wir haben mit einer geschlossenen Mannschaftsleistung sehr diszipliniert und voller Glauben gespielt." Aber leider habe man dann noch dieses späte Gegentor zugelassen. Besonders gefreut hat Terzic sich trotzdem darüber, dass die Mannschaft "so leidenschaftlich" gespielt habe. "Das war ja unser Thema zuletzt."

Mit einer ähnlichen Leistung, da waren sich Terzic, Hummels und Reus einig, habe man im Rückspiel nächsten Mittwoch noch alle Möglichkeiten. "Die Chance ist voll da", sagte Hummels. "Wir glauben dran", sagte Reus. Dazu werden sie aber nicht umhin kommen, den binnen 35 Pflichtspielen zuletzt nur ein einziges Mal (durch Manchester United) besiegten Citizens von Trainer Pep Guardiola eine Niederlage zuzufügen.

Die "Weltsensation", wie BVB-Boss Hans-Joachim Watzke einen Einzug ins Halbfinale schon vor dem Hinspiel genannt hatte, hat man mit einer ebenbürtigen Leistung nun in die Sphären des Möglichen gerückt. Haaland könnte sich sein bedeutendstes Tor für Dortmund für den kommenden Mittwoch aufgespart haben. Was ihm dieser Wettbewerb bedeutet, hat man vor dem Anpfiff beim Abspielen der Champions-League-Hymne gesehen: Der 20 Jahre alte Norweger sang den dreisprachigen Text (Englisch, Deutsch, Französisch) wie eine Nationalhymne mit. Womöglich hat ja auch das dem rumänischen Schiedsrichter-Assistenten so imponiert.

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