Süddeutsche Zeitung

Borussia Dortmund:Baden in der Haaland-Welle

Der BVB muss zurzeit nicht mal richtig überzeugend spielen, um zu gewinnen. Gegen Mainz richtet es wieder Erling Haaland - unterstützt von Jude Bellingham, den man mit 18 schon einen Strategen nennen kann.

Von Freddie Röckenhaus, Dortmund

Für ein paar Augenblicke hätte man denken können, alles wäre wieder wie früher. Dritte Minute: Marco Reus knüppelt den Ball volley in den Winkel, und die Stimme des Volkes explodiert geradezu, als Stadionsprecher Norbert Dickel zum Namens-Ritual aufruft. "Marco?" - und aus 60 000 aufgerissenen Mündern schallt das Echo "Reus!" durchs Stadion. Reus! Reus! Reus! Eine Nachname, wie gemacht fürs Stadion, ein Mann, ein Tor, eine Silbe. Die Rückkehr des großen Publikums lief nach diesem frühen Spektakel zwar nicht immer so überschäumend, aber Borussia Dortmund gewann mit 3:1 gegen Mainz 05, und nach dem Abpfiff skandierte die Masse das nächste Lieblingswort: "Spitzenreiter! Spitzenreiter!"

Zwischen den beiden größten Phon-Orgien des Nachmittags lag für den BVB und seinen erstmals seit Beginn der Pandemie wieder halbwegs vollzähligen Anhang ein Spiel wie viele andere. Irgendwie haushoch überlegen, aber selten richtig zwingend, und vor allem nie ohne Gegentor. Eine Mannschaft, die über weite Strecken wie ein Versprechen spielt, aber am Ende immer zu sagen scheint, dass es doch noch zu früh sei, um die Geschenke auszupacken. Kein Wunder, dass Borussen-Trainer Marco Rose später nicht übermäßig beeindruckt wirkte. Weder von der Performance des Publikum noch von der seiner Spieler: "Es war ein ordentliches Spiel von uns. Aber wir machen es uns hintenraus immer schwer."

Am Ende fehlten ein paar tausend Zuschauer fürs Prädikat "ausverkauft"

Theoretisch durfte Deutschlands größtes Stadion am Samstag erstmals wieder 68 000 Zuschauer aufnehmen, am Ende fehlten dann aber ein paar Tausend zum sonst hier üblichen Prädikat "ausverkauft". Man hörte den Lautstärke-Unterschied zu den rund 25 000, die zuvor erlaubt waren, noch nicht so ganz. Das mag auch daran liegen, dass einige Hardcore-Fan-Gruppierungen die Bundesliga-Spiele des BVB bisher noch boykottieren, weil die "Gelbe Wand", also die rund 25 000 Zuschauer fassende Stehplatz-Tribüne, zurzeit nur halb besetzt sein darf. Es gilt das Sitzplatz-Gebot.

Kann aber gut sein, dass sich längst nicht alle Stehplatz-Fans an die Parolen der organisierten Gruppen gehalten haben. Nach dem Spiel jedenfalls wurden vor allem die beiden Publikumslieblinge Jude Bellingham und Erling Haaland abgefeiert, als gäbe es kein Morgen. Dortmunds 18-jähriger Engländer hatte sich in der 95. Minute wieder einmal den Ball von einem Mainzer stibitzt, rannte dann unaufhaltsam, wenn auch erkennbar auf Reserve, auf das Tor des Mainzer Keepers Robin Zentner zu, passte mit letzter Kraft quer auf Erling Haaland - und der wusste, was zu tun ist.

Das 3:1 fiel zu einem jubelfreundlichen Zeitpunkt, und so ließ sich der Norweger nach dreiwöchiger Zwangspause abfeiern, wie man das von ihm kennt. Am Ende sogar mit einem schwarz-gelben Fan im Arm, der offenbar Zaun und Ordnerketten überwunden hatte und ganz außer sich zu sein schien vor Glück. Nach einem digitalen Impfpass wird man als Flitzer auf dem Fußballrasen offenkundig nicht mehr gefragt.

Haaland hatte bei seinem Comeback nach auskurierter Oberschenkelprellung zwischendurch auch noch einen - erst nach Video-Besichtigung gegebenen - Handelfmeter ins Tor versenkt, aber sonst hielten ihn die meist nur mit Verteidigen beschäftigten Mainzer gut unter Kontrolle. Dennoch schraubte Haaland seine persönliche Bundesliga-Tor-Quote mit den beiden Treffern auf 49 Tore in 49 Spielen. "Eigentlich hätten wir ihm gerne etwas früher eine Pause geben wollen", fasste Rose nach dem Spiel die Lage rund um seinen Topstürmer zusammen, "aber am Ende macht er eben in der 95. Minute noch entscheidende Tore. Und außerdem brauchen wir ihn schon wegen seiner Größe als freien Mann in der Defensive."

Rose verteilt einen kleinen Seitenhieb gegen seine Mannschaft

Das war wohl als Seitenhieb auf die gewohnten Probleme seiner Mannschaft gedacht. Wie praktisch immer fing sich Dortmund in der Schlussphase des Spiels einen Gegentreffer, diesmal durch den Mainzer Jungstar Jonathan Burkardt. Zu-Null-Spiele scheinen beim BVB abgeschafft zu sein. Und trotz einer beeindruckend hohen Ballbesitzquote hatten die Dortmunder zuvor, wie schon so oft in der aktuellen Saison, kein Chancen- und Treffer-Depot anlegen können.

Haalands noch jüngerer Kamerad Bellingham war vielleicht der eigentliche Star des Nachmittags. Woher der Mittelfeld-Mann, der mit seinen 18 zu jung erscheint, um ihm schon das Etikett eines Strategen anzuheften, all die Kräfte nimmt, fragt man sich immer wieder. Die letzte Länderspielpause durfte er immerhin für eine tatsächliche Pause nutzen, weil sein Vater und seine Mutter ihm bei Englands Nationaltrainer Gareth Southgate eine persönliche Ausladung verschafft hatten. Irgendwann müsse der junge Mann ja auch mal verschnaufen.

Am Ende der 90 Minuten badete Bellingham dann ein bisschen mit in der Haaland-Welle. "Ich empfinde es als Privileg, bei einem so großen Klub und vor so einem Publikum spielen zu dürfen. Aber nach dem letzten Tor konnte ich einfach nicht mehr jubeln. Ich war so platt, dass dafür keine Energie mehr übrig war", sagte er. Am Dienstagabend, wenn Dortmund zum vorentscheidenden Champions League-Gruppenspiel bei Ajax Amsterdam vorstellig wird, dürften die Speicher von Jude Bellingham wieder knapp unter 100 Prozent anzeigen. Das wird auch nötig sein, denn die nächsten drei BVB-Wochen sind wieder sogenannte "englische" Wochen. Wobei Bellingham versichert, er habe noch nicht wirklich verstanden hat, warum das in Deutschland eigentlich "englische Wochen" genannt wird.

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