Süddeutsche Zeitung

Borussia Dortmund:Ganz, ganz brillante Grätsche

Dortmund stellt beim 4:0 gegen Frankfurt mal wieder einen Offensivrekord nach dem anderen ein - freut sich aber viel mehr über seine Defensive.

Von Ulrich Hartmann, Dortmund

Sogar Rekorde können irgendwann ein bisschen ermüdend sein. Bei Borussia Dortmund wurden mit dem 4:0-Sieg gegen Eintracht Frankfurt weitere Vereins-Bestmarken geknackt: 63 Tore nach 22 Spieltagen und 36 Bundesliga-Heimspiele in Serie mit mindestens einem eigenen Treffer; außerdem sind die Dortmunder als einziges Team der Liga daheim noch unbesiegt und haben diese beiden 19 Jahre alten Stürmer, die ihre individuellen Bundesliga-Rekorde immer weiter ausbauen: Erling Haaland hat für seine ersten acht Tore nur fünf Spiele gebraucht, und Jadon Sancho hat als jüngster Fußballer der Historie schon 26 Ligatore geschossen. Bloß ein Gerücht ist, dass bei jedem BVB-Spiel ein Notar im Publikum sitzt, der den Klubalmanach umgehend aktualisiert.

Woche für Woche knackt dieser BVB offensive Bestmarken, aber nach dem Sieg feierten die Dortmunder Spieler einen ganz anderen Rekord, einen, der gar nicht so spektakulär klingt: Nie hat der BVB im Laufe eines Spiels einem Gegner weniger zugestanden als diesen einen einzigen Torschuss, den die Frankfurter hatten. Das grenzt für ein Team, das zuvor Woche für Woche über sein fragiles Defensivverhalten gegrübelt hatte, an eine Sensation.

Den neuralgischen Augenblick erlebten die Dortmunder in der vierten Minute dieser Partie gegen Frankfurt durch einen Spieler, der zwei Wochen zuvor aus genau diesem Grund, nämlich als Mentalitätsfußballer und Führungspersönlichkeit, vom italienischen Meister Juventus Turin abgeworben worden war: Emre Can, 26, in Frankfurt geboren, deutscher Nationalspieler. Gegen den besten Dribbler der Bundesliga, Filip Kostic, wagte Can kurz nach dem Anpfiff eine Alles-oder-Nichts-Grätsche im eigenen Strafraum.

Dem blitzschnellen Kostic sprang Can - unbeirrt von zuvor zwei Dortmunder Niederlagen und einem bevorstehenden Champions-League-Spiel gegen Paris St. Germain - direkt in Richtung Beine. Geht so eine Grätsche schief, gibt es Elfmeter; dann hätte Frankfurt in Führung gehen und anschließend genüsslich einen Sieg erkontern können. Cans riskantes Manöver hätte Borussia Dortmund noch tiefer hineintreiben können in eine kapitale Krise. Diese Grätsche hätte den Trainer Lucien Favre irgendwann sogar das Amt kosten können. Doch sie wurde eine brillante Grätsche. Can separierte Kostic im Höchsttempo geradezu chirurgisch vom Ball. Die Fans flippten aus. Die Eintracht war konsterniert. Für Dortmund war diese kapitale Grätsche ein Fanal. Nach dem Schlusspfiff sagte der umjubelte Can: "Diese Mannschaft hat extrem viel Potenzial, und wenn wir alle zusammen weiter so verteidigen, dann kann das hier ganz groß werden."

Weil er fußballerisch wie rhetorisch die doppelte Absicherung praktiziert, benutzte Can nach dem Spiel alle Adverbien doppelt. Er sagte: "Der Trainer hat uns ganz, ganz genau gesagt, wie wir die Frankfurter anlaufen sollen, und das haben wir als Mannschaft sehr, sehr gut gemacht - wenn wir so stabil bleiben, dann kann das hier noch sehr, sehr erfolgreich werden."

Den flinken Kostic präzise abzugrätschen, ist die eine Sache, Angreifer wie Neymar, Edinson Cavani, Kylian Mbappé oder Mauro Icardi straffrei vom Ball zu trennen, ist eine ganz andere. Auch wenn Can nach dem Frankfurt-Sieg schon so klang, als müssten sich Bundesliga- und Champions-League-Konkurrenten gleichermaßen warm anziehen, so müssen die Dortmunder am Dienstagabend gegen das Paris Saint-Germain des deutschen Trainers Thomas Tuchel ihren Worten erst noch Taten folgen lassen. Das wissen sie. "Paris", sagt Can, "ist eine der besten Mannschaften der Welt, gegen die dürfen wir auf keinen Fall wieder passiv werden, sondern müssen weiter so nach vorne spielen."

Die Pariser sind so gut, dass sich dann auch zeigen wird, wie präzise Cans Grätschen wirklich sind. Axel Witsel, sein Nebenmann im defensiven Dortmunder Mittelfeld, sagt: "Gegen Paris wird's schwierig, die sind offensiv eines der besten Teams in Europa; Neymar, Mbappé und Icardi sind extrem gefährlich. Icardi siehst du bis zum Strafraum eigentlich kaum, aber sobald er darin auftaucht, schießt er auch schon ein Tor."

Solche Stilisierungen gehören zum Geschäft. Die Realität erlaubt sich bisweilen Ausnahmen. Am Samstag gastierte der Tabellenführer Paris beim Vorletzten Amiens. 3:0 führte der Abstiegskandidat nach 44 Minuten, ehe die Pariser das Spiel mit vier Toren drehten. In der 74. Minute krönte Icardi sein Erscheinen im Strafraum zum einzigen Mal mit einem Treffer. Dieses 4:3 hätte den Sieg bedeuten sollen, doch in der Nachspielzeit glich Amiens noch zum 4:4 aus. Der Trainer Tuchel reagierte anschließend gereizt: "Jetzt denkt die ganze Welt, wir werden unruhig, wir haben Probleme - aber nein. So ist das Leben, so ist der Fußball."

Tuchel, im Sommer 2017 im Streit mit Klubchef Hans-Joachim Watzke nach zwei Jahren beim BVB ausgeschieden, will den damaligen Dissens übrigens nicht zum Plot des Wiedersehens machen. Der Welt am Sonntag sagte er: "Dieses Spiel ist keine Bühne, um etwas aufzuarbeiten."

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Quelle:
SZ vom 17.02.2020
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