Eine Spruchweisheit erfahrener Bundesliga-Trainer und -Manager besagt, dass die Tabelle erst ab dem zehnten Spieltag eine gewisse Aussagekraft besitzt für den weiteren Verlauf der Saison. An diesem Punkt ist die laufende Spielzeit zwar noch nicht angelangt, aber sie ist auch schon über das Anfangsstadium hinweg, in dem sich die Neulinge noch an ihre Mitspieler, die Mannschaften an ihre neuen Trainer und die Trainer an ihre neuen Mannschaften gewöhnen müssen. Die Zufallsmomente im Betrieb nehmen ab, die Konstanten nehmen zu.
Der skurril anmutende aktuelle Stand der Bundesliga-Tabelle, in der mehr als ein halbes Dutzend Klubs quasi gleichauf vorneweg läuft, beruht daher nicht mehr nur auf Anpassungsprozessen und den üblichen vorübergehenden Launen einer Startphase. Er hat konkrete Ursachen - und womöglich demnächst auch konkrete Folgen.
Ein offener Wettbewerb erfreut zwar das Gros des Publikums, und sicherlich genießt es auch die Deutsche Fußball-Liga (DFL), dass sie ihren Medien- und Geschäftspartnern ausnahmsweise mal einen spannenden Kampf um die Spitzenplätze anbieten kann. Die Großmächte der Liga aber halten Spannung nur dann für erstrebenswert und dem Gemeinwohl zuträglich, wenn ihre Vorherrschaft davon nicht berührt wird. Dies gilt nicht nur für den FC Bayern und seinen exklusiven Pachtanspruch auf Platz 1, sondern auch für Borussia Dortmund, das in der nationalen Rangliste mindestens die Position 1 B für sich als angemessen erachtet.
Dieses Verlangen haben die obersten Borussen durch ihre zielstrebige Einkaufspolitik und entsprechende Aussagen vor der Saison konsequent unterstrichen. Es erweist sich nun aber zunehmend als Problem, dass sich an diesem ja keineswegs unbegründeten oder unangebrachten Macht- und Meistertitel-Anspruch, der im Grunde ein begrüßenswertes sportliches Bekenntnis darstellt, nicht alle führenden Borussen beteiligen wollen. Ausgerechnet dem Trainer Lucien Favre sind solche ambitionierten Zielsetzungen fremd, er möchte seinen Beruf lieber als Sportlehrer und pädagogische Fachkraft ausüben.
Weder ist er dazu imstande noch ist er gewillt, die von der Klubführung öffentlich gesetzten Erwartungen ebenso öffentlich offensiv mitzutragen. Damit ließe sich leben, solange seine Lehre die gewünschten Resultate liefert.
Doch da dies nun wiederholt nicht der Fall gewesen ist, hat sich ein Gegensatz zwischen den Verantwortlichen des BVB ergeben, der ständig Unruhe schafft. Lucien Favre sieht in seiner Rolle als - überspitzt gesagt - Anspruchsleugner wie ein Trainer aus, der Leistung verhindert, weil er sie nicht mit Unbedingtheit einfordert. So häufen sich die Untertöne in den Reden der BVB-Vorgesetzten, mit denen Favre zur Last gelegt wird, dass seine Elf in mittlerweile planmäßiger Zuverlässigkeit nach wiederkehrenden Mustern Punkte einbüßt.
Die vielen gefühlten Tabellenführer der Bundesliga haben alle eigene spannende Geschichten zu erzählen, aber anders als bei Gladbach, Wolfsburg, Freiburg oder Schalke ist das Spannungselement in Dortmund nicht produktiv und erwünscht, sondern gefährlich für die nächsten Wochen. Vor allem für Favre.