Peter Bosz ist nicht völlig allein mit dieser unglaublichen Geschichte. In der man im Fußball schon mit vier Toren vorne liegt, alles in den Händen zu halten glaubt, und es einem trotzdem noch entgleitet. Auch Joachim Löw musste das schon erleben. Im Oktober 2012 wurde gar über eine Entlassung des Bundestrainers diskutiert. Nicht mal zwei Jahre später war Löw Weltmeister - und Mario Götze hat in Rio gegen Argentinien das entscheidende Tor erzielt.
Vielleicht hätte Bosz in der Halbzeit also Götze um Rat fragen sollen. Der hat ja jetzt, als Einziger, schon zwei Mal erleiden müssen, wie sich auf großer Bühne aus heiterem Himmel ein 4:0 in ein 4:4 verwandelt. Damals, gegen Schweden in Berlin, wurde Götze von Löw eingewechselt, eigentlich nur, um den Vorsprung über die Zeit zu spielen. Am Samstag, im epischen Revier-Derby, wurde er beim Stand von immerhin noch 4:2 ausgewechselt, kurz bevor der BVB endgültig zusammenfiel wie ein Soufflé (dabei hatten die Schalker nicht einmal, wie die Schweden, einen Ibrahimovic dabei). Dieser Mario Götze könnte, würde es nicht seinem Naturell widersprechen, nun der Zeuge der Anklage sein im Prozess, der Peter Bosz gerade gemacht wird. Und in dem die Trennung am Sonntag bis auf Weiteres verschoben wurde, weil Borussia Dortmund eine Alternative fehlt.
Bundesliga:In Dortmund nur noch geduldet
Am Tag nach dem 4:4 im Revierderby bestätigt der BVB: Peter Bosz darf als Trainer bleiben. Doch die Position des Niederländers dürfte das kaum stärken.
Parallelen zu Löw 2012
Es gibt ja durchaus Parallelen zwischen dem Löw von 2012 und dem Bosz von heute. Weiterhin hat auch der Bundestrainer eine ähnlich optimistische Idee vom Spiel, die sich bei beiden am Ideal des FC Barcelona orientiert. Nur hat Löw damals mit der Bedenkzeit, die einem Bundestrainer durch lange Spielpausen zusteht, dann doch ein paar Sicherungen fürs eigene Tor in sein System einbauen können. Das Dortmunder Personal hingegen wird gerade von der Hektik des aktuellen Spielbetriebes überspült. Die Niederlagen summieren sich nach einem stereotypen Muster, das schon beim Champions-League-Aus gegen Tottenham, Real Madrid und Nikosia zu bestaunen war - der BVB präsentiert der Welt die zarteste Defensive, seit es Abwehrreihen gibt.
Spätestens da gelangt man zur Frage, was der Anteil des Trainers ist - und was der Anteil des Vereins sein könnte. Speziell in Dortmund, wo sie noch eine lange Weile dabei sein werden, ihr Thomas-Tuchel-Trauma zu verarbeiten. Selten ist eine Trainer/Klub-Beziehung, die theoretisch eine auf Dauer hätte werden können, im Alltag derart krachend gescheitert. Noch heute werden die Scherben gekehrt, und jeder Scheidungsrichter hätte vor der Schuldfrage kapituliert. Ist es doch ermüdend bis unmöglich, aufzudröseln, wer wann was zur bitterbösen Zerrüttung beigesteuert hat. Der höchst anstrengende Tuchel aber hatte ab und an noch bei der Kaderplanung mitreden dürfen. Und immer dann, wenn heute die Debatten an Dortmunder Theken aufflackern, geht es auch darum, wer sich für welchen Profi stark gemacht hat. In einen fairen Prozess um Peter Bosz gehört, dass er sein Personal geerbt hat.
Denn eine Folge des Tuchel-Streits ist auch, dass beim BVB die folgende Doktrin beschlossen wurde: Der Verein entscheidet souverän über sein Personal, der Trainer trainiert nur, ähnlich wie in einem Rennstall für sehr teure Pferde. So machen das die meisten Großklubs.
Es fehlt ein Wellenbrecher, einer, der die Rettungsringe wirft
Für den Kader, für den sich die BVB-Führung im Sommer entschied, wurde das Derby nun zum Spiegelbild: Hui bis zum 4:0, pfui bis zum 4:4, ein dramaturgischer Verfall. Auch gegen Schalke war zentral kaum physisch präsentes Ärmel-hoch-Personal zu erkennen. Profis, die unter der traditionellen Berufsbezeichnung des "Wellenbrechers" arbeiten. Die, wenn alles schwimmt, die Rettungsringe werfen können. Und die die Risikoversicherung für all die Zauberfüße sind, sobald sie den Pressschlag gewinnen und die präzise Grätsche setzen.
Indem er Javier Martínez, einen kantigen Basken, sofort wieder ins Zentrum beorderte, hat Jupp Heynckes den FC Bayern gefestigt. Gladbach und Leverkusen werden heute durch Matthias Ginter und Sven Bender stabilisiert, beide hat Dortmund im vorigen Sommer ohne viel Gegenwehr ziehen lassen. Der freundliche Herr Bosz mag einen naiven Zugang zum Bundesligafußball gehabt haben. Spannend wird, ob er oder ein baldiger Nachfolger eine clevere Idee haben, um den zentralen Konstruktionsfehler im Edelkader des BVB zu beheben.