Süddeutsche Zeitung

Tischtennis-WM:Fix und fertig - aber Weltklasse

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Timo Boll kämpft sich in Houston unter großen Qualen zum Bronze-Gewinn - als ältester Mann in dieser Disziplin. Der Auftritt des 40-Jährigen erinnert sogar an antike Erfolgsgeschichten.

Von Ulrich Hartmann

Weltklasse-Tischtennis ist eine spektakuläre Kombination aus Leistungssport und Zirkusartistik. Und manchmal kann es den Beobachtern Tränen der Rührung in die Augen treiben. Zum Beispiel, wenn der Anhang von Timo Boll, einem der prominentesten Schlägerakrobaten aus Odenwald, seinem Lieblingsspieler eine schmerzhafte Bauchmuskelzerrung ansieht und bei einzelnen Schlägen dessen leidvolles Aufstöhnen vernimmt - dann wird der Sport zum Drama. Tränen des Mitleids inklusive.

Boll war fix und fertig, als er sich jetzt in Houston mit einem 4:2-Sieg gegen den US-Amerikaner Kanak Jha zum zweiten Mal in seiner Karriere eine Einzelmedaille bei einer Weltmeisterschaft gesichert hatte. Mit 40 Jahren und 264 Tagen ist er sogar der älteste männliche Medaillengewinner in einem WM-Einzel. Doch all das hatte am seidenen Faden gehangen, oder besser: an lädierten Muskelfasern. "Ich wusste nicht, ob ich hinschmeißen soll", berichtete Boll später von seinem Martyrium: "Aber ich wollte mir keinen Vorwurf machen müssen."

Boll liefert das nächste große Drama

Hans-Wilhelm Gäb, der Ehrenpräsident des Deutschen Tischtennis-Bunds, adelte Boll hernach sogar "endgültig zur Legende", als habe es noch letzte Zweifel an diesem Status gegeben. Die Leistung, fand Gäb, sei vergleichbar mit der des Springreiters Hans-Günter Winkler gewesen, der vor 65 Jahren ähnliches durchlitten hatte.

Schmerzen gehören zum Leistungssport dazu, viele Athleten strapazieren ihren Körper über das Erträgliche hinaus. Auch Boll spielte im Viertelfinale nicht nur gegen einen Widersacher, sondern auch gegen eine Verletzung an. Das Halbfinale in der Nacht zum Montag verlor er anschließend denkbar knapp 3:4 gegen den jungen Schweden Truls Möregard. Trotz all der Schmerzen wollte er nicht auf die Partie verzichten, und fast hätte es sogar zum Finaleinzug gereicht.

Der Zweispalt trug Züge einer griechischen Sage. Eine Art Sagengestalt war Boll in seinem Sport ja ohnehin schon. Sein 21 Jahre junger Viertelfinalgegner Jha spielte mit einem Butterfly-Holz, Modell 'Timo Boll'. Sein 19 Jahre junger Halbfinalgegner Möregardh nannte Boll in einem Fragebogen einst als Vorbild. Dass die Burschen die leidende Legende nun leibhaftig vor sich hatten, dürfte sie trotz aller Professionalität beeindruckt haben.

So eine Geschichte kennt man auch von Hans Günter Winkler, der vor drei Jahren verstorbene, ehemalige Springreiter. Winkler erklomm den Sport-Olymp am 17. Juni 1956 bei den in Stockholm ausgetragenen Reitwettbewerben der Spiele von Melbourne, als ihn seine Stute Halla fehlerfrei durch den Parcours zu Gold trug, während Winkler mit einem Muskelriss im Bauch bei jedem Sprung aufstöhnte. Diese schwarz-weißen TV-Bilder waren sehr präsent, als man Bolls Klagen am Wochenende in Texas vernahm. "Irgendwann habe ich es so hochgereizt, dass die Schmerzen gar nicht mehr weggingen", berichtete er, "aber dagegen half das Adrenalin - und dass man dem Sieg näher kam."

Dass Boll mit einem Sieg auch die Bronzemedaille sicher hatte, dürfte seiner Leidensfähigkeit nicht abträglich gewesen sein. WM-Bronze im Einzel hatte zuvor erst einmal gewonnen, 2011 in Rotterdam. Ohne lädierten Bauchmuskel hätte Boll in Houston wohl sogar von noch größeren Weihen träumen können. Der Schwede Möregardh ist in der Weltrangliste schließlich nur die Nummer 77, und im Finale in der Nacht zum Dienstag wartet zwar ein Chinese - aber einer, den man in Topform vielleicht hätte besiegen können.

Vor zwei Jahren, bei der Einzel-WM in Budapest, war Boll schon einmal so eine Geschichte widerfahren. Auch damals hatte er in seiner Hälfte des Turniertableaus keinen Chinesen mehr zu fürchten auf dem Weg ins Endspiel. Doch vor dem Achtelfinale gegen den Südkoreaner Jang Woojin bekam er Fieber und musste aus dem Einzel und auch aus dem Doppel aussteigen, in dem er sich mit Patrick Franziska gegen zwei Portugiesen Bronze hätte sichern können. "Ihm blutet das Herz", sagte damals der Teamarzt Antonius Kass.

Das war in Houston nicht anders. Aber diesmal stillte Bronze den emotionalen Aderlass zumindest ein wenig. Der Bundestrainer Jörg Roßkopf scherzte: "2011 die erste WM-Einzelmedaille, jetzt die zweite - vielleicht holt er 2031 die dritte."

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