Süddeutsche Zeitung

Spielabbruch nach Becherwurf in Bochum:"Das ist traurig und nicht akzeptabel"

Lesezeit: 4 min

In der 69. Minute des Spiels zwischen Bochum und Gladbach wird Christian Gittelmann von einem Becher getroffen. Der Schiedsrichterassistent muss ins Krankenhaus, der VfL rechnet mit Konsequenzen - und hatte vor dem Spiel noch gewarnt.

Von Ulrich Hartmann, Bochum

Beim VfL Bochum kennen sie ihre Pappenheimer und das Problem der fliegenden Plastikbecher nicht erst seit Freitagabend. Erst kurz vor Weihnachten hatte sich der damals noch für Union Berlin spielende Max Kruse nach der Begegnung in Bochum bitter über jene "Ruhrpott-Asis" beschwert, die ihn immer wieder mit Beleidigungen und Bierbechern besudelten.

Am Nachmittag vor dem Freitagabendspiel gegen Borussia Mönchengladbach nun, als 25.000 Zuschauer ins Stadion durften und damit erstmals seit langem wieder eine größere Anzahl, da hatte der VfL extra ein Video bei Youtube hochgeladen, in dem man den Mannschaftskapitän Anthony Losilla auf der leeren Osttribüne stehen und genüsslich an einem Bier des Bochumer Bierbrauers und VfL-Sponsors 'Fiege' nippen sieht. Dazu hört man Losilla warnend sagen: "Fiege ist nicht zum Werfen, sondern zum Trinken!" Sie hatten im Klub eine Vorahnung gehabt . Und die hat sich bewahrheitet.

Noch während des Spiels ermahnte der Bochumer Stadionsprecher die eigenen Fans immer wieder, "bitte keine Gegenstände aufs Spielfeld zu werfen". Es half aber nichts. In der 69. Minute, 21 Minuten vor dem regulären Ende des Bundesligaspiels und beim Stande von 2:0 für die Gäste aus Gladbach, flog aus dem Block A auf der Gegentribüne ein offenbar zumindest noch teils gefüllter Bierbecher in Richtung des Linienrichters Christian Gittelmann und traf ihn am Hinterkopf. Ein anderes Ziel als ihn, etwa einen Gladbacher Spieler, konnte dieser Wurf nicht gehabt haben, denn es war weit und breit kein Spieler in der Nähe. Gittelmann duckte sich kurz, als der Becher ihn traf, dann hob er den nun leeren Becher vom Rasen auf und schleuderte ihn missmutig hinter die Werbebande, den Kopf demonstrativ zum Zeichen des Unverständnisses schüttelnd. Dann ließ er seine Fahne fallen, ging in die Hocke, setzte ein Knie auf dem Rasen ab und rieb sich den Hinterkopf.

Als sich der besorgte Schiedsrichter Benjamin Cortus näherte, zeigte Gittelmann ihm mit dem erhöhten Daumen kurz an, dass er unversehrt sei. Trotzdem wurde das Spiel sofort unterbrochen. Die Schiedsrichter zogen sich zusammen in die Kabine zurück. Die beiden Mannschaften ebenfalls. Nach 19-minütiger Unterbrechung verkündete der Stadionsprecher um 22.19 Uhr, dass das Spiel abgebrochen sei. Das Stadion leerte sich, die Menschen gingen heim.

Gittelmann sei benommen gewesen, beschrieb Cortus später am Abend. Der 39 Jahre alte Schiedsrichter-Assistent aus der Pfalz wurde von Sanitätern und unter Begleitung des zweiten Linienrichters Florian Heft in ein Bochumer Krankenhaus gefahren. Zu Gittelmanns Daumen-Geste sagte Cortus: "Er hat nach dem Spiel in der Kabine gemeint, erst mal stehe man ja noch unter Adrenalin, aber wenn dieses nachlässt, dann merkt man's erst richtig." Cortus erklärte unmissverständlich: "Bei einem tätlichen Angriff auf einen Spieloffiziellen ist ein Spielabbruch alternativlos."

2:0 führte Gladbach zu diesem Zeitpunkt durch Treffer von Alassane Plea (55.) und Breel Embolo (61.). Es galt also gerade genau jenes Ergebnis, mit dem die Partie auch gewertet werden dürfte, sollte sie am grünen Tisch zugunsten Borussia Mönchengladbachs entschieden werden. Was als sehr wahrscheinlich gilt. So war das auch am 1. April 2011, als zum siebten und zuvor letzten Mal ein Bundesliga-Spiel abgebrochen wurde. Schalke 04 führte beim FC St. Pauli in Hamburg damals ebenfalls mit 2:0, als in der 88. Minute der Linienrichter Thorsten Schiffner von einem Becher aus dem Publikum getroffen wurde. St. Pauli wurde vom Sportgericht des Deutschen Fußball-Bundes wenige Tage später zum Verlierer erklärt mit der Begründung, der Gastgeber sei für seine Zuschauer verantwortlich und habe den Spielabbruch somit zu verantworten.

Nun also, fast elf Jahre später, der achte Spielabbruch in der Bundesliga-Geschichte. "Das ist traurig und nicht akzeptabel", sagte der VfL-Sportchef Sebastian Schindzielorz. "Das ist peinlich", fand Bochums Co-Trainer Markus Gellhaus, der anstelle des corona-infizierten und häuslich isolierten Trainers Thomas Reis an der Seitenlinie stand. Auch Gladbachs Trainers Adi Hütter sah den Eklat daheim im Fernsehen. Er wurde wegen einer Corona-Infektion im zweiten Spiel nacheinander von seinem Assistenten Christian Peintinger vertreten. "Es ist traurig, dass ein Spiel so enden muss", sagte Peintinger. "Niemand will, dass ein Spiel so zu Ende geht", sagte Gladbachs Sportdirektor Roland Virkus, "die Atmosphäre war gut, Bochum hat ein cooles Publikum, eigentlich."

Der FC St. Pauli damals, anschließend abgestiegen, durfte als Strafe nach sportjuristischem Hin und Her sein erstes Heimspiel der darauffolgenden Saison 2011/12 in der zweiten Liga nicht im heimischen Stadion am Millerntor austragen, sondern musste mindestens 50 Kilometer davon entfernt spielen und entschied sich für das Stadion Lohmühle im 80 Kilometer entfernten Lübeck. Vor 10.093 Zuschauern besiegte man dort den FC Ingolstadt mit 2:0.

"Wir müssen uns in aller Form beim Schiedsrichter-Assistenten Christian Gittelmann entschuldigen", sagte VfL-Sportchef Schindzielorz am späten Freitagabend voller Bedauern. Er rechne fest mit Konsequenzen für seinen Verein. Schindzielorz war aber auch deshalb sauer auf den noch unbekannten Täter, weil man noch mehr als 20 Minuten Spielzeit gehabt hätte, um den 0:2-Rückstand vielleicht noch auszugleichen. "Wer weiß, wie's gelaufen wäre", sagte er. Immerhin: Bochum hat sieben Spiele vor Saisonende bereits 32 Punkte. Ein Abstieg wie damals St. Pauli droht dem Ruhrpott-Klub nicht unmittelbar. Dann hätte der Becherwerfer einen noch viel größeren Einfluss auf die Dinge gehabt.

Um 1.27 Uhr in der Nacht zum Samstag verschickte der VfL Bochum per Mail noch eine Erklärung. Darin entschuldigte man sich nochmals beim Linienrichter Gittelmann und erläuterte: "Im Mittelpunkt steht nun die Täterermittlung. Die Auswertung der Bilder läuft. Im Falle einer Identifizierung wird der VfL Bochum Schritte einleiten, zum Beispiel Stadionverbot, Vereinsausschluss oder Einzug der Dauerkarte. Er behält sich Schadenersatzansprüche vor." Im Klub gehen sie fest davon aus, dass der VfL Bochum "verbandsseitig bestraft" wird. Sie kennen zwar ihre Pappenheimer, aber dass es ausgerechnet direkt im Spiel nach ihrer expliziten Video-Warnung so weit kommen würde, damit hatten sie nicht gerechnet.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5550836
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.