Bob:"Ich reagiere manchmal etwas cholerisch"

Bob: Emotionales Kraftpaket: Anschieber Thorsten Margis freut sich über Gold im Zweierbob von Francesco Friedrich.

Emotionales Kraftpaket: Anschieber Thorsten Margis freut sich über Gold im Zweierbob von Francesco Friedrich.

(Foto: AFP)

Von Volker Kreisl, Pyeongchang

Bitte, bitte, dachte Thorsten Margis jetzt nur noch, bitte, jetzt mach' ES DOCH EINFACH! Er hatte seinen Teil der Arbeit erledigt, und jetzt konnte er nur noch auf das Geschick seines Piloten hoffen. Er konnte sich nur noch ducken, den Kopf einziehen, die Augen schließen, und jeder einzelnen Kurve, jeder Rippe im Eis, jeder Bande nachspüren.

Aber Bob-Beifahrer sind keine Zen-Meister, sie sind es gewohnt, die Dinge in die Hand zu nehmen und anzuschieben. Grob fünf Sekunden dauert ihr Job, danach durchleben sie die Fahrt nur noch blind, also über das Gespür. Weil sie dabei umso mehr fühlen, ist Thorsten Margis, der Anschieber des deutschen Bob-Piloten Francesco Friedrich der beste Zeuge, um das spektakulärste Zweier-Bob-Finale in der Geschichte Olympias nachzuerzählen.

Margis, 28 Jahre alt, ehemals Zehnkämpfer, ein sachlicher, freundlicher Mann, hatte viel zu berichten hinterher. Er und Friedrich waren gerade Olympiasieger geworden, zeitgleich auf das letzte Hundertstel, also gemeinsam mit den Kanadiern Justin Kripps und Alexander Kopacz. Das kommt vor, in Nagano hatten sich 1998 schon mal der Italiener Günther Huber und der Kanadier Pierre Lueders den Sieg geteilt. Was so aber noch nicht vorkam, war die Verdichtung der Sehnsüchte des ganzen Verbandes, des entsprechenden Pflichtgefühls, der Niedergeschlagenheit und des finalen Überschwangs in einem einzigen Bob, nicht größer als eine Badewanne.

Ein Zeugnis von den emotionalen Ausbrüchen dieser Tage war der Riss in der Zaunplanke, von der Margis erzählt, er habe sie im Ziel kaputt getreten. "Ich reagiere manchmal etwas cholerisch", sagt er sachlich, aber das sei vielleicht eine wichtige Reaktion gewesen, ein Hinweis an den Piloten, der ihn nun seit fünf Jahren durch die Weltcups und Weltmeisterschaften steuert, und ausgerechnet jetzt, im entscheidenden Moment schwächelte.

Francesco Friedrich, 27 Jahre alt, hatte schon alles gewonnen, nur noch keine Olympiamedaille. Sieben WM-Titel hat er im Team oder im Einzel errungen, dreimal war er der beste Weltcupfahrer am Ende des Winters. "Er ist der beste Pilot auf der Welt", sagt Margis, und das nicht nur deshalb, weil er es als Anschieber sagen muss, sondern weil es im Moment stimmt. Aber die Kurve zwei, dieses frühe Nadelöhr, das den meisten Bobfahrern noch mehr Sorgen bereitete als die berüchtigte Kurve neun der Bahn von Pyeongchang, an dieser Nummer zwei war Friedrich nun zweimal gescheitert.

"Wollt ihr uns veraschen? Es geht nur um Gold"

Nach den ersten beiden von vier Läufen hatten sie 29 Hundertstel Rückstand - und in der Nacht höchstens drei Stunden Schlaf. Was konnte Margis ausrichten? Nachdem er in die Planke getreten hatte, begannen sie zu analysieren und zu sprechen. "Da muss man ihm als Anschieber den Rücken freihalten", fand Margis, also ihm klarmachen, wer er ist und was er kann. Danach, sagt Friedrich, "war die Devise: Alles oder nichts". Vier Jahre Arbeit seit dem enttäuschenden achten Platz von Sotschi, die vielen Materialtests und Bob-Wechsel von dem Hersteller FES zum Innsbrucker Wallner-Bob und wieder zurück - dieser Aufwand konnte immer noch zu einem guten Ende gebracht werden. Margis erinnert sich, wie die Trainer ihnen Mut zusprechen wollten, eine Medaille sei doch immer noch möglich, wie sie aber dachten: "Eine Medaille? Irgendeine? Wollt ihr uns verarschen? Es geht nur um Gold!"

Lauf Nummer drei, Montag, 20:25 Uhr: Friedrich/Margis stehen am Start. Wegen der Nervosität fällt dieser etwas "zappelig" aus, erinnert sich Margis später. Das heißt, der Anriss, also die maximale Kraftentfaltung des ersten Moments war nicht optimal. Aber sie konnten sich ja auf ihre Sprintfähigkeiten verlassen, weil auch Friedrich einer der seltenen schnellkräftigen Piloten ist. Der Start war vorbei, Margis sprang auf seinen Platz, es wurde dunkel. Eine erste Biegung, dann kam ihre letzte Chance, die Kurve zwei, die Friedrich, um nicht wieder den ganzen Schwung zu verlieren, nun bitte, bitte, sauber durchfahren musste.

Vor der Goldfahrt haben sie schlecht geschlafen

Margis erkennt auf seinem Horchposten die Ideallinie, nicht nur, weil es ihn im Falle einer Bandenberührung kräftig herumschleudert. Er spürt und hört auch, ob der Schlitten sanft dahingleitet oder ob die Vorderkufen arbeiten und der Unterboden vibriert. In dieser Passage der Zwei "musste Francesco unheimlich viel arbeiten, damit der Schlitten oben bleibt", sagte Margis. Möglichst lange musste der Bob an der Begrenzung der Steilwand entlangfahren, um nach dem Ausgang keine Gegenbande zu erwischen, wie am Tag zuvor.

Aber plötzlich: ein neues Fahrerlebnis.

In den folgenden Kurven war weniger Druck zu spüren, die Kufen rutschten glatter übers Eis, das ganze System, der Schlitten, der Pilot und der Anschieber wurden leichter. Friedrich hatte das Nadelöhr getroffen.

Warum er so schlecht geschlafen hatte, kann man sich denken. Der Pilot aus Oberbärenburg in Sachsen erzählt, er habe diese Kurve "im Geiste wahrscheinlich tausendmal durchfahren, wieder und wieder". Da schütteln natürlich alle Mentaltrainer den Kopf, weil so etwas nur kontraproduktiv ist. Aber Bobfahrer sind keine Zen-Meister, sondern Arbeiter, und Friedrich hatte es im letzten Moment auch so geschafft.

In einer Badewanne ist kein Platz für logisches Denken

Dieses Schlüsselerlebnis und die saubere restliche Fahrt schubsten die beiden vor dem Finallauf auf Platz zwei, nur sechs Hundertstel hinter Kripps. Gegen halb elf standen nur noch der deutsche und der kanadische Bob oben. Und weil sich beide über die gesamten vier Läufe hinweg gleich viele Fehler erlaubt und gleich große Fahrkunst gezeigt hatten, erschien diese absurd unwahrscheinliche Gesamtzeit-Anzeige von zweimal 3:16,86 Minuten absolut logisch.

Nur, in so einer rasenden Badewanne ist kurz vor der Lichtschranke des Ziels kein Platz für logisches Denken. Friedrich erzählte, er habe alles gegeben, habe sich auch geduckt, um seinen Kopf aus dem Wind zu nehmen: "Ich bin in den letzten Kurven komplett blind gefahren", sagt er, er habe sich voll auf den Schlitten verlassen. Hinter ihm kauerte Margis, er fing an zu schreien und zu jubeln, denn die Fahrt war so leicht, so perfekt, und er wusste: "Das muss es sein."

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