Bilanz der Leichtathletik-WM:Bunte Farben, schnelle Worte

Sweden's Green-Tregaro sits, with her fingernails painted in different colours, during women's high jump qualification heats at IAAF World Athletics Championships in Moscow

Regenbogenfarben als Protest: die bunt lackierten Fingernägel der schwedischen Hochspringerin Emma Green-Tregaro

(Foto: REUTERS)

Wladimir Putin vor dem Fernseher, eine Weltmeisterin im Schnellreden und bunte Fingernägel als Symbol für so viel mehr: Die Leichtathletik-WM in Moskau war eine gute Bühne für die verschiedensten Temperamente und Geschichten. Eine Bilanz.

Von Thomas Hahn, Moskau

Noch einmal hebt sich der Vorhang zum letzten Akt dieses Menschentheaters, welches die Leichtathletik-WM ist. Der Blick wird frei auf eine Bühne, die Platz für die verschiedensten Typen bietet. Was genau gespielt wird, ist nicht ganz einfach zu verstehen. So viele unterschiedliche Temperamente, so viele kleine Geschichten, die alle für etwas anderes stehen, eine wirkliche Handlung scheint es gar nicht zu geben. Oder ergibt sich vielleicht doch eine, wenn man ein paar Figuren herausgreift?

Von einem, der sich fortwährend bedankt

Stephen Kiprotich aus Uganda geht jetzt wie ein alter Mann. Mit steifen Beinen steigt er aufs Podest der Sieger-Pressekonferenz. Vor wenigen Stunden noch ist er mit eleganten Schritten seinen äthiopischen Kollegen davongelaufen und hat den WM-Marathon in 2:09:51 Stunden gewonnen. Es ist Kiprotichs zweites großes Gold nach dem Olympiasieg im vergangenen Jahr. Aber jetzt hat er Muskelkater, die Kraft ist erstmal weg, und auch sonst wirkt er überhaupt nicht wie ein Triumphator.

Kiprotich hat eine helle, etwas brüchige Stimme, seine Sprache ist einfach und klar, und seine Dankbarkeit ist groß. "Thank you", sagt er, wenn ihm jemand eine Frage gestellt hat, und wenn seine Antwort zu Ende ist, sagt er wieder "Thank you". Um ihn ist diese Aura von afrikanischer Noblesse, die auch bei dieser WM wieder einen gewissen Raum hatte.

Kenia (3.) und Äthiopien (6.) liegen weit vorne im Medaillenspiegel, Kiprotich, der in Kenia trainiert, hat mit seinem Sieg ein weiteres Zeichen für die afrikanische Lauf-Dominanz gesetzt. Die Afrikaner haben sich durchaus auch ein bisschen beklaut fühlen müssen in Moskau: Der Brite Mo Farah, geboren in Somalia, hat sowohl die 10.000 als auch die 5000 Meter gewonnen, die gebürtige Äthiopierin Abebe Aregawi hat für Schweden Gold über 1500 Meter geholt. Aber im Grunde hat Afrika wieder geleuchtet.

Und in ihrer dezenten Art haben die Afrikaner auch hingenommen, dass der Weltverband IAAF sowohl Marathon-Frauen als auch -Männer in der prallen Nachmittagshitze über die maue Wendepunkt-Strecke an der Moskwa schickte. "Die Bedingungen waren ungünstig", sagt Stephen Kiprotich freundlich. "Thank you." Wenig später erhebt er sich vorsichtig von seinem Stuhl und stakst auf wehen Beinen davon. "Thank you." Es ist, als wäre der Weltmeister Stephen Kiprotich sogar für seine Schmerzen dankbar.

Emma und der Regenbogen

Emma Green-Tregaro aus Göteborg ist ein bisschen enttäuscht, dass sie die 2,00 Meter nicht mehr geschafft hat. Aber Platz fünf mit 1,97 Metern im Finale der Hochspringerinnen ist ja auch nicht schlecht, außerdem gibt es wichtigeres als das Ergebnis in einer Liste. Aufrecht und mit festem Stolz steht Emma Green-Tregaro in der Interviewzone.

Kann sein, dass sie jetzt eine der gefragtesten WM-Fünften der Geschichte ist, denn viele wollen wissen, was sie zu erzählen hat, nachdem sie in der Qualifikation mit Fingernägeln in Regenbogenfarben ein Zeichen der Solidarität für die Homosexuellen-Bewegung gesetzt hat - und gegen die diskriminierende russische Gesetzgebung, die seit Kurzem die "Propaganda nichttraditioneller sexueller Beziehungen vor Kindern" verbietet, was auch immer das sein soll.

Geduldig schreitet Emma Green-Tregaro den Medien-Parcours ab und sagt aus einer großen inneren Ruhe heraus das, was aus ihrer Sicht zu sagen ist. "Ich bin froh, dass ich es gemacht habe." - "Ich hatte 99 Prozent positive Reaktionen." - "Ich hatte keine Angst." - "Ich folge einfach meinem Herzen."

Die Leute im Luschniki-Stadion haben Emma Green-Tregaro freundlich empfangen. Vielleicht gab es den einen oder anderen Pfiff bei der Vorstellung, aber als sie ihren letzten Versuch gerissen hatte und ins Publikum winkte, umgab sie ein warmer, herzlicher Applaus. Emma Green-Tregaro hat sich bestätigt gefühlt in ihrer Haltung. Etwas irritiert war sie allenfalls darüber, wie der Weltverband IAAF auf ihre kleine Demonstration für eine freie Liebe reagierte.

Regenbogen-Fingernägel als Regelverstoß

Die IAAF informierte den schwedischen Verband vor dem Hochsprung-Finale am Samstag darüber, dass die bunten Fingernägel ein Regelverstoß waren. Der Verband richtete es der Athletin aus, und Emma Green-Tregaro entschied, auf Rot umzulackieren, was sie weiter als Zeichen der Liebe verstanden wissen wollte. Sie tat es, um ihrem Verband keinen Ärger zu machen, aber sie tat es nicht gerne.

Es gibt Fragen im Leben, bei denen kann man sich nicht umwehen lassen, das ist die kleine große Botschaft der Hochspringerin Emma Green-Tregaro. Was sie zu der russischen Stabhochsprung-Olympiasiegerin Jelena Issinbajewa sage, die ihre, Green-Tregaros, Haltung in einem ersten Statement als Respektlosigkeit vor Russland bezeichnete?

"Ich habe mit ihr noch nicht selbst gesprochen, deshalb möchte ich dazu nichts sagen", sagt Emma Green-Tregaro. Und die IAAF-Regeln? Ist es nicht absurd, dass sie ein kleines Zeichen im Dienste der Gleichberechtigung von Menschengruppen als Vergehen sehen? "Ich finde schon", sagt Emma Green-Tregaro. "Für mich ist es Allgemeingut, die Liebe zu feiern."

Putins Werfer

Dimitri Tarabin macht auch Politik. Er merkt es vielleicht gar nicht, denn er ist noch sehr jung, 21 erst, und er ist so fest verwurzelt in den Werten seiner russischen Heimat, dass man ihm nicht unterstellen muss, er sage aus Berechnung, was er jetzt sagt. Tarabin ist gerade Dritter im Speerwerfen geworden mit 86,23 Metern, im letzten Versuch hat er den kenianischen Wurfpionier Julius Yego auf Platz vier verdrängt, und nun macht Tarabin diesen Bronze-Gewinn zu einem Erfolg, der von ganz oben kommt.

Wladimir Putin habe ihn vor dem Wettkampf angerufen, um ihm Glück für den Wettkampf zu wünschen. "Wladimir Putin, Präsident von Russland!", ruft Tarabin mit ungläubiger Begeisterung. "Ich war so motiviert, dass ich meinen Speer in zwei Teile hätte brechen können", übersetzt der Dolmetscher.

Die Russen waren stark bei ihrer Heim-WM. Es hat viele Dopingfälle bei ihnen gegeben zuletzt, aber es sind noch genügend gute Leute übrig geblieben: Platz eins im Medaillenspiegel, Russlands Leichtathletik sieht sich bestätigt in ihrem zentralisierten System, das die Nationalathleten regelmäßig in großen Trainingslagern zusammenzieht.

Und im Luschniki-Stadion, das am Schluss gut gefüllt war, entfachten die Sportler echte emotionale Höhepunkte: Jelena Issinbajewa mit ihrem Stabhochsprung-Gold. Der 22 Jahre alte Alexander Menkow mit seinem Sieg-Weitsprung auf 8,56 Meter.

Rollins ist die Entdeckung der Saison

Die 4x400-Meter-Staffel der Frauen, die am Samstag überraschend das ersatzgeschwächte US-Team mit 3:20,19 zu 3:20,41 Minuten auf Platz zwei verwies. Oder eben Dimitri Tarabin, der seinen Speer dann lieber doch nicht kaputt machte vor lauter Putin-Verehrung, sondern ihn weit hinaus ins Feld schleuderte. "Im letzten Versuch hat mich der Gedanke motiviert, dass Präsident Putin vor dem Fernseher sitzt und mir zuschaut. Ich habe den Rückhalt gespürt", sagt Dimitri Tarabin, der treue Werfer des Präsidenten.

Frauen-Power

Irgendjemand muss Brianna Rollins, 21, gesagt haben, dass es auch im Schnellreden was zu gewinnen gibt. Denn nach ihrem Hürdensprint-Sieg in 12,44 Sekunden hat die junge Amerikanerin ihre Antworten derart eilig heruntergerattert, dass man kaum mitschreiben konnte. Besonders lange Sätze machte sie auch nicht, und so ist nicht ganz klar geworden, wie sie nach ihren Jahren als erfolgreiche College-Hürdensprinterin in ihrem ersten Jahr als Profi so raketenartig in die Weltspitze vorstoßen konnte.

Ihr Gesundheitsmanagement habe sie verbessert, sagte sie und beiläufig gab sie zu, in Moskau durchaus den Weltrekord im Visier gehabt zu haben. "Ich dachte, ich könnte ihn brechen, aber dann habe ich mir gedacht, ich sollte erstmal ein ordentliches Rennen machen."

Brianna Rollins ist die Entdeckung der Saison in der Leichtathletik. Außerdem steht sie für eine Garde junger US-Girls, welche der großen Leichtathletik-Macht in Zukunft die Medaillen bringen dürfte. Auch die Hochsprung-Zweite Brigetta Barrett, 22, gehört dazu, die im Schnellreden gegen Rollins keine Chance hätte, dafür aber auf Anfrage in der Interviewzone mit voller Stimme die US-Hymne schmetterte.

Andere WM-Debütantinnen waren noch etwas hinterher, aber ein Generationenwechsel scheint im Gange zu sein im US-Team. Die Etablierten können es ja auch nicht ewig reißen, wie die achtmalige Weltmeisterin Allyson Felix erleben musste. Seit Jahren verrichtet sie zuverlässig ihren Medaillenabhol-Dienst bei Großmeisterschaften, diesmal streikte im 200-Meter-Finale ihre Muskulatur, was nicht nur ihre Einzel-Aussichten zunichte machte, sondern auch die Sprintstaffeln schwächte, für die Felix vorgesehen war.

Die ideale WM war das nicht für die USA: Platz zwei im Medaillenspiegel, und bei den Männern scheint es Nachwuchssorgen zu geben. Die Profiligen in den US-Spielsportarten sind eher das Ziel für die Jugend als die zehrende Leichtathletik. Junge Sportlerinnen haben in dieser Hinsicht in den USA weniger Wahlmöglichkeiten: Für zierliche Fräuleins wie Brianna Rollins ist im American Football kein Platz.

Energie sparen mit Bolt

Bolt verheißt dem Menschentheater eine graue Zukunft

Usain Bolt grüßte in den Pressekonferenz-Raum hinein wie der Papst. Und bevor das Frage-Antwort-Spiel zu seinem deutlichen 200-Meter-Sieg in 19,66 Sekunden beginnen konnte, erfuhr Bolt, dass es ein Geschenk für ihn gebe. "Ein Auto?", fragte Bolt. Nein, kein Auto. Ein Bild, das Bolt bei seinem Sieg im 100-Meter-Finale zeigt, während aus dem Nachthimmel ein Blitz zuckt. Blitz unter Blitz, so könnte man das Bild nennen, Bolt nahm es mit professioneller Dankbarkeit entgegen.

Fotos von Bolt mit dem Foto wurden gemacht. Und dann konnte es losgehen mit den Fragen zu diesem Rennen, das gar keine Fragen offen ließ, weil Bolt so deutlich gewonnen hatte, dass er sich schon weit vor dem Ziel in einen Sparschritt wechselte, um seine kostbaren Beine nicht unnötig zu strapazieren. "Ich habe noch ein paar Rennen in dieser Saison", sagte Bolt. Was hätte die Uhr wohl gezeigt, wenn er durchgezogen hätte?

Bolt war jedenfalls wieder gut drauf bei der WM. Das ganze Jamaika-Team war gut drauf, wenn man bedenkt, wie viele Dopingaffären und Verletzungsprobleme es ausgedünnt hatten: Platz vier im Medaillenspiegel, außerdem räumte nicht nur Usain Bolt drei Sprint-Goldmedaillen ab (die Staffel siegte unter Bolts Führung in 37,36), Olympiasiegerin Shelly-Ann Fraser-Pryce tat es bei den Frauen genauso. Was will man mehr als kleine Karibik-Insel?

Zumal sich Usain Bolt in Moskau ja auch für eine weitere goldene Zukunft schonte. Bei Olympia 2016 will er noch mal die volle Gold-Lieferung. "Eines meiner Ziele ist es, in Rio zu starten und zu dominieren", sagte Usain Bolt, König der PR-Leichtathleten, und verhieß dem Publikum im Menschentheater damit eine graue Zukunft. Er wird gewinnen. Es bleibt langweilig in der Welt der Sprinter.

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