12,5 Kilometer Ski zu fahren ist für Franziska Preuß im Normalfall keine große Herausforderung. Am Sonntagnachmittag in der Schweiz merkte die deutsche Biathletin allerdings schnell, dass ihr der abschließende Massenstart bei dieser Weltmeisterschaft alles abverlangen würde. Schon auf der ersten Runde des Kurses „klebten“ die Ski, sagte Preuß später, das Material unter ihren Füßen bremste sie aus. „Heute war es einfach nur hart“, sagte sie, als sie das Ziel erreicht hatte. Ihre Beine waren ohnehin nicht mehr die frischesten gewesen, Bauchschmerzen hatten sie auch noch geplagt – am Ende stand ein siebter Platz trotz nur einem Fehler am Schießstand.
Da musste sich Preuß erst mal daran erinnern, dass ihr diese WM auch so viele Glücksgefühle beschert hatte. Vier Medaillen, darunter Silber im Sprint und Gold in der Verfolgung, bedeuteten für die 30-Jährige die Erfüllung lang gehegter Träume: „Hätte mir das vorher jemand gesagt, dann hätte ich das sofort genommen.“ Ihre Ergebnisse hübschten die Bilanz der Deutschen kräftig auf, insbesondere mit Blick auf die Medaillenausbeute der Männer: Ihnen war mit Bronze in der Staffel das einzige Lebenszeichen Richtung Konkurrenz gelungen. Und da galt trotz aller Euphorie, was Philipp Horn sagte: „Wir waren heute überdurchschnittlich unterwegs.“

Deutsche Männer bei der Biathlon-WM:Akuter Fachkräftemangel
Die Trefferleistung indiskutabel, der Abstand zur Spitze enorm: Nach einem verpatzten Start in die Biathlon-WM ringen die deutschen Männer um Wiedergutmachung. Im Einzel-Wettbewerb muss sogar eine Nachnominierung helfen.
Die ganze Saison über laufen Horn und Co. der Weltspitze hinterher, eine ganz andere Situation als bei Franziska Preuß: Die 30-Jährige führt die Gesamtwertung im Weltcup an und zeigte nun in der Schweiz, dass sie im Vollbesitz ihrer Kräfte auch Medaillen sammeln kann. Im Massenstart lag sie trotz aller Probleme erneut bis zum letzten Schießen in aussichtsreicher Position, ehe ihr eine Strafrunde größere Chancen raubte. Elvira Öberg aus Schweden sicherte sich trotz zweier Strafrunden den Titel, Océane Michelon aus Frankreich und Norwegens Maren Kirkeeide schafften es sogar mit je drei Patzern zu Silber und Bronze. Mit nur einem Fehler hätte man „normalerweise schon Richtung Medaille laufen können“, sagte Frauen-Cheftrainer Kristian Mehringer: „Die Franzosen haben überragendes Material gehabt. Das hat bei uns heute nicht hundertprozentig gepasst.“
Mit vier Medaillen gehört Preuß dennoch zu den erfolgreichsten Athletinnen dieser WM. Beinahe wäre ihr mit der Staffel am Samstag noch ein Erfolg gelungen – doch zwei Nachlader im entscheidenden Schießen waren zu viel, um nach der Strafrunde von Startläuferin Sophia Schneider auf den Bronzerang zu kommen. Am Ende wurde es Rang fünf. Und dann waren es plötzlich die Männer, die über ihren Möglichkeiten abschnitten.
„Ich war noch nie so am Ende in der letzten Runde“, sagt Philipp Horn
Was Franziska Preuß im Großen in der Schweiz gelungen ist, lernte Philipp Horn im kleineren Maßstab: Die schlechteste aller Optionen ist es, zu früh aufzugeben. Und oft ist die beste aller Optionen: den Kopf einfach mal abzuschalten. Philipp Horn ist Weltmeister im Grübeln, und das Nachdenken kann zehrender sein als mancher Anstieg. Seine WM in der Schweiz begann im Sprint mit drei Fehlern im Liegendschießen, da dachte er noch auf der Matte: „Die WM ist gelaufen. Der Verfolger ist verkorkst, der Massenstart dahin.“ Am Ende stand Rang 44. Dass Horn dann am Samstag, am vorletzten Tag der Wettbewerbe, als strahlender Held in der Arena gefeiert wurde, sich gar als größte Olympiahoffnung des Männer-Teams entpuppte: Das war eine Erfahrung, die fast größeren Wert besaß als die Bronzemedaille.
Alle Augen waren auf ihn gerichtet, wie er zusammen mit dem Schweden Sebastian Samuelsson beim finalen Schießen stand und um Bronze kämpfte. Eine Situation, die Horn diesmal trotz seiner erneut drei Fehler im Liegendschießen beinahe kalt ließ. „Ich war so bei mir, das war so unglaublich entspannt und gut“, sagte Horn später, „ich habe nichts vom Samuelsson mitbekommen, nichts vom Publikum.“ Und so zielte er Schuss für Schuss ins Schwarze. „Wahnsinn, wie gut er das gemacht hat“, lobte Sportdirektor Felix Bitterling.
Dass Horn sich dann auf der Strecke über die letzten Anstiege quälen konnte, den Vorsprung vor dem weniger treffsicheren Samuelsson ins Ziel rettete, resultierte aus seiner erprobten Leidensfähigkeit. „Ich war noch nie so am Ende in der letzten Runde“, sagte Horn. Zwischendurch dachte er, er falle noch vor der Ziellinie entkräftet in den Schnee: „Ich habe gedacht, das gibt es doch nicht, ich kriege die Füße nicht mehr vor.“ Aber er lief doch weiter und wurde schließlich von den Staffelkollegen Philipp Nawrath, Danilo Riethmüller und Johannes Kühn gefeiert. Bei der Siegerehrung flossen viele Tränen der Erleichterung.
Horn hätte sich nach seinem Desaster im Sprint am liebsten vergraben, aber manchmal braucht es das Zureden von außen, um wieder die richtige Perspektive zu finden. Seine Frau schickte ihm Fotos seines bisherigen Biathlonlebens, das bis zuletzt zwar nur mit einer WM-Staffelmedaille von 2020 geschmückt war, dafür viele spaßige Momente beinhaltete. Mit einem siebten Platz im Einzel raffte sich Horn schließlich zum besten Deutschen auf. Der zielsicherste Schütze Justus Strelow sorgte in der Mixed-Staffel und der Single-Mixed-Staffel für Podestplätze, musste die Konkurrenz auf der Strecke aber regelmäßig ziehen lassen. Im abschließenden Massenstart wurde Horn 13. vor Philipp Nawrath auf Rang 16 (je zwei Nachlader). Mehr deutsche Starter hatten sich nicht qualifiziert. Norwegens Johannes Thingnes Bö lief in seinem letzten WM-Rennen auf Rang drei hinter seinen Teamkollegen Endre Strömsheim und Sturla Holm Laegreid.
Mit der Männerstaffel eine Medaille zu holen, sei „die beste Chance, die wir haben“, hatte Johannes Kühn gesagt. Darin steckte auch eine größere Wahrheit: Laufen, Schießen und die Nerven behalten ist eine Kunst, die im Männerteam derzeit keiner durchgängig beherrscht. Umso mehr strahlten in der Schweiz die Werke der Künstlerin Franziska Preuß.