Süddeutsche Zeitung

Biathlon-WM:Erst verrückt, dann entrückt

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Norwegens Marte Olsbu Roeiseland überragt bei der Biathlon-WM, dabei war eine Teamkollegin die große Favoritin. Auch andere Geschichten prägten die Tage in Antholz: von Verzweifelten, Stehaufmännchen und einer Elternzeit.

Von Saskia Aleythe und Volker Kreisl

Frieden wollte er schließen, wenigstens am letzten WM-Wochenende. Ins Reine kommen wollte Benedikt Doll und zwar mit dem Schießstand von Antholz und wohl auch ein bisschen mit sich selbst. Zwei Rennen standen noch bevor, doch auch in der Staffel und im Massenstart blieb dieser windumwehte Schießstand sein Gegner. Die Trefferbilanz des im Weltcup besten Deutschen blieb bei dieser WM eine Enttäuschung. 26 Fehler in sechs Einsätzen hatte der sonst solide Schütze gesammelt, aber er war nicht allein. Bis auf Ausnahmen hatte das gesamte deutsche Team Probleme beim Schießen, wie auch schon während dieser Saison.

Die Mängel sind offensichtlich, und die Verantwortlichen sind sich dessen bewusst. Die Ursachen in dieser psychologisch und technisch anspruchsvollen Teildisziplin sind individuell und breit gefächert, es geht los beim rechtzeitigen Herunterfahren des Pulses und endet mit dem Auftauchen aus der Konzentration, und zwar erst nach dem Nachhalten des letzten Schusses. Irgendwo dazwischen haben gerade fast alle deutschen Biathleten Probleme, weshalb im Frühjahr Maßnahmen zur Verbesserung beschlossen werden sollten. In Antholz wollte der Sportliche Leiter Biathlon im DSV, Bernd Eisenbichler, nicht sagen, wie diese Maßnahmen aussehen könnten, nur dass man sie ergreifen werde. "Wir werden uns umschauen, wer uns punktuell in verschiedenen Dingen helfen kann." Die nächste Chance, mit dem windumwehten Schießstand Frieden zu schließen, bietet sich Doll ab dem 18. Januar 2021: beim nächsten Weltcup in Antholz.

Gustav geht vor

Ein Ausnahmeathlet ist Johannes Thingnes Bö in mehrfacher Hinsicht, schließlich legen die wenigsten Männer eine Elternzeit ein, wenn sie gerade im Weltcup ganz oben stehen und eine WM vor ihnen liegt. Als sein Sohn Gustav im Januar geboren wurde, ließ Bö vier Rennen aus, auch nach Antholz reiste er später als seine Kollegen. Der 100-Prozent-Biathlet, der auch zu Hause nur an Biathlon denkt - das war einmal. Einen kleinen Teil seiner Dominanz hat er zuletzt zwischen Schnuller und Windeln verloren, aber der Verlust ist verschmerzbar: Statt vier Goldmedaillen wie bei der WM in Östersund vor einem Jahr gewann Bö diesmal drei, dafür war seine Ausbeute mit sechs Podiumsbesuchen sogar besser als damals in Mittelschweden. "Ich habe das Gefühl, dass er nach dem Verlust eines Sieges jetzt etwas weniger wütend auf sich selbst ist als zuvor," sagte Trainer Siegfried Mazet in Antholz der Aftenposten. Und Bö ist ja erst 26 Jahre alt, da bleibt noch genügend Zeit, um seinem Sohn in den kommenden Jahren zu zeigen, was Papa so drauf hat. Ein Video aus Antholz kann er ihm schon bald vorführen: Als Bö im Massenstart doch noch seine Goldmedaille in einem Einzelrennen holte, machte er eine Wiege-Geste. Baby-Gruß an Gustav.

In jedem Rennen eine Medaille

Noch verdutzter als bei Bös Babypause schauten die Norweger, als Marte Olsbu Roeiseland Mitte Dezember einen Weltcup-Termin komplett ausließ. "Viele haben mich für verrückt erklärt", erzählte die 29-Jährige aus Arendal nach ihrem Gold-Gewinn im Sprint; statt auf den Sieg im Ge-samtweltcup zu schielen, hatte sie sich damals ein anderes Ziel gesteckt: dass es ihr bei dieser WM besser ergehen möge als bei der vergangenen. Da gewann sie zwar schon dreimal Gold mit den Staffeln, war aber so ausgepowert, dass von "Fit zum Höhepunkt" nicht mehr die Rede sein konnte. Ihr Plan ging diesmal jedenfalls noch besser auf als gedacht: sieben Rennen in elf Tagen, sieben Medaillen für Olsbu Roeiseland. "Wenn mir das vorher jemand erzählt hätte, hätte ich es ihm nicht geglaubt", sagte die erfolgreichste Sportlerin der WM nach ihrem letzten Gold im Massenstart, im Ziel löste sich die Anspannung der vergangenen Tage in Tränen auf. Tiril Eckhoff, die als Führende im Weltcup nach Antholz gereist war, erlebte hingegen eine WM zum Vergessen: Unter drei Fehlern am Schießstand ging bei ihr nichts. "Ich habe mir selbst zu viel Druck gemacht", sagte sie. Die Augen waren nach ein paar Tagen aber ohnehin auf ihre Kollegin gerichtet.

Endlich nicht mehr Vierte

Liegt ein Fluch auf Hanna Öberg? Beinahe musste man ja auf diesen Gedanken kommen: Platz vier in der Verfolgung, Platz vier im Einzel, auch in der Single-Mixed-Staffel landete sie knapp hinter den Podiumsplätzen. Was Dorothea Wierer für Italien ist, ist Hanna Öberg für Schweden: die Biathlon-Königin. Doch immer wieder wurde ihr in Antholz das Krönchen vor der Nase weggeschnappt. Im Einzel stieg Öberg in Pyeongchang schon mit 22 Jahren zur Olympiasiegerin auf, und sie hat längst bewiesen, dass das kein Zufallsprodukt war. Bei der Heim-WM vor einem Jahr klappte es in derselben Disziplin wieder mit dem Sieg, und auch Antholz hatte noch ein Happy End für sie übrig. Am letzten Tag der WM lag Öberg in der Schlussrunde des Massenstarts auf, klar, Platz vier. "Ich hatte nichts anderes in meinem Kopf außer: Ich will diese verdammte Medaille", sagte Öberg später, und die Beine folgten ihrem Willen. Sie spurtete noch an der Polin Monika Hojnisz-Staręga vorbei, es war die einzige Medaille der Schweden in Antholz. So mancher Betreuer versteckte seine Gefühle hinter der Sonnenbrille. Dass es regnete, war da nur eine Randnotiz.

Die Verwandlung des Rentners

Der beste Beweis, dass Biathlon-Weltmeisterschaften jeden Tag von vorne anfangen, ist Dominik Landertinger. Als 62. der Welt war der Österreicher nach Antholz gereist, nach einem 31. Platz im Sprint erwischte es ihn in der Verfolgung noch schlimmer: Platz 40 nach vier Strafrunden. Danach sagte der 31-Jährige: "Ich habe geschossen wie ein Volksschüler und bin gelaufen wie ein Rentner." Drei Tage später war er im Einzel über 20 Kilometer kaum wiederzuerkennen, nur ein Fehler und offenkundig verjüngte Beine trugen ihn zu Bronze. Landertinger kämpfe vor den TV-Kameras mit den Gefühlen, schließlich hatte er im Dezember schon "fast beschlossen, dass ich meine Karriere beende, weil es mir körperlich kaum noch möglich war, schnell zu laufen". Ein Bandscheibenvorfall vor drei Jahren machte sich immer noch in muskulären Problemen bemerkbar, Physiotherapie brachte schließlich immer mehr Besserung. Und bei Großereignissen ist ohnehin immer mit ihm zu rechnen, 2018 in Pyeongchang hatte Landertinger ebenfalls im Einzel Bronze gewonnen, der Antholzer Erfolg ist seine neunte Medaille bei Weltmeisterschaften oder Olympia. Jene von Antholz? Sei aufgrund der Umstände seine schwierigste und zugleich schönste, sagte er.

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SZ vom 25.02.2020
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