Süddeutsche Zeitung

Biathlon-WM:Der König meditiert

Bei seinen ersten Weltmeisterschaften gewinnt der Norweger Sturla Holm Lägreid gleich vier Titel. Er nutzt die Kraft der Gedanken - und kommt auf eine Trefferquote, die beinahe perfekt ist.

Von Saskia Aleythe

Die Flasche war am Ende nicht sein Freund, aber das konnte Sturla Holm Lägreid verkraften. Es ist ja auch gut, wenn man noch etwas verbessern kann - und diese Performance war ausbaufähig. Es lief die letzte Siegerehrung bei der Biathlon-WM in Slowenien, und als Quentin Fillon Maillet, Bronze-Gewinner im Massenstart, schon den ganzen Champagner verspritzt hatte, fummelte Lägreid noch immer am Korken herum. Sei's drum, er ist ja erst 24. Aber: schon vierfacher Weltmeister.

Der Komet ist eingeschlagen, bei seinen ersten Weltmeisterschaften, in seinem ersten kompletten Jahr bei den Profis. Lägreid muss sich immer noch schütteln nach den Rennen; beinahe, um zu überprüfen, ob er wirklich wach und das jetzt die Realität ist. Noch vor dem Jahreswechsel stand auf seinem Gewehr unter dem Diopter: "Onkel und Tante". Es hatte sich kein anderer Sponsor gefunden als die Verwandtschaft. Und jetzt schreiben die Zeitungen in Norwegen von: Sturla, dem WM-König. "Das übertrifft meine wildesten Fantasien", sagte er nach seinem vierten Gold am Sonntag dem TV-Sender NRK, "ich hätte es nicht gewagt, davon zu träumen."

Lägreid träumt nicht, er nutzt die Kraft der Gedanken: Vor den Rennen legt er das Smartphone beiseite, sitzt in der Kabine und meditiert. Er übt Atemtechniken ein und Visualisierungen, zum Beispiel vor dem Einzel über 20 Kilometer. "Dieses Rennen habe ich schon zehn Mal in meinem Kopf absolviert", sagte der Norweger nachdem er Gold gewonnen hatte, "heute habe ich mir vorgestellt, wie alle auf mich schauen, der Druck auf mir lastet und wie ich damit umgehe." Das Schießen ist sein Kapital, seine Trefferquote in den Individualrennen bei der WM: 97 Prozent. So mancher in den Top Ten kam nicht mal auf 79.

Nach dem Abitur begann er ein Studium der Nanotechnologie

Ausgerechnet von einer Krankheit hat Lägreid profitiert, genauer gesagt von dem Umgang damit. Im Frühjahr 2018 bekam er die Diagnose Pfeiffersches Drüsenfieber, konnte monatelang nicht trainieren. Doch eines war auch mit geschwächtem Immunsystem möglich: Videos gucken. "Ich habe einige Zeit damit verbracht, Martin Fourcade und seine Position beim Schießen zu studieren", berichtet Lägreid. Er hat sich Details abgeschaut, wie der Franzose auch die unterschiedlichsten Bedingungen am Schießstand bewältigte, "wenn er in ein Rennen kam, hatte er immer einen neuen Plan". Fourcade selber fuhr nun für ein paar Tage auch nach Slowenien und schaute sich den Durchstarter an. Er erkenne Ähnlichkeiten mit sich, sagte Fourcade gegenüber NRK, aber Lägreid erinnere ihn "nicht an Martin Fourcade aus dem Jahr 2010, als er 21 Jahre alt war. Auf dem Schießstand verhält sich Sturla wie ein 30-jähriger erfahrener Biathlet".

Nach dem Abitur startete Lägreid ein Studium der Nanotechnologie, doch der Sport nahm immer mehr Raum ein. Und er will Dinge zu 100 Prozent erledigen, also widmete er sich immer mehr dem Biathlon. Jeden Schuss betrachtet Lägreid am Schießstand für sich, will jeden Treffer erarbeiten. Selbst Siegfried Mazet, der vor ein paar Jahren von Fourcade zum norwegischen Verband wechselte, staunt über die Sicherheit des Neulings. Sie hat ihn überhaupt erst ins norwegische Team gespült. Vor einem Jahr nach der WM in Antholz durfte Lägreid zum ersten Mal im Weltcup antreten, dann im Sommer mit den Profis trainieren. Gleich das erste Rennen in Kontiolahti entschied er für sich. "Wir haben viel Spaß zusammen", sagt Lägreid über die Stimmung in der Mannschaft, "unser Team ist sehr stark, und das ist das, was uns besser macht." In Johannes Dale, 23, gibt es noch so einen Unheimlichen im Team: Er konnte nun wie Lägreid im Einzel und Massenstart absahnen, gewann erst Bronze und dann Silber. Die beiden sind Nachbarn in Lillehammer, kennen sich seit Kindertagen. "Das haben wir uns noch nicht vorstellen können mit zwölf Jahren, dass wir bei der WM 2021 zusammen auf dem Podium stehen", sagt Dale.

"Er setzt einen völlig neuen Standard"

14 Medaillen gewannen die norwegischen Frauen und Männer bei der WM auf der Hochebene Pokljuka, Rekord. Die Brüder Johannes Thingnes und Tarjei Bö, sie freuten sich mit Lägreid, aber natürlich spüren sie auch die neue Konkurrenz. Dachte man nicht vor ein paar Monaten noch, dieser Johannes Thingnes Bö sei auf Jahre unbezwingbar? "Das waren nicht meine Weltmeisterschaften", sagt Bö, zum ersten Mal seit 2017 gab es für ihn keinen Einzel-Titel bei einem Großereignis. "Was er bisher gezeigt hat, ist enorm", sagte Bö, immerhin Bronze-Gewinner in der Verfolgung, über Lägreid, "er setzt einen völlig neuen Standard."

Der Sponsoren-Platz auf seiner Waffe ist jetzt längst verkauft, die vier Medaillen brachten Lägreid allein 64 000 Euro Preisgeld ein. Anders als seine Kollegen setzte er sich nicht in den Flieger nach Norwegen, sondern ins Auto nach Österreich. Zu Hause warte keine Freundin auf ihn, außerdem wolle er das Reisen in Corona-Zeiten minimieren. Und in zwei Wochen, wenn die Saison in Nove Mesto in Tschechien wieder Fahrt aufnimmt, geht es für ihn ja noch um was: um den Sieg in der Weltcup-Gesamtwertung.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5214354
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/klef
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.