Süddeutsche Zeitung

Biathlon-WM in Schweden:Schaurige Geschichten aus dem Idyll

  • Laura Dahlmeier war in der schwedischen Idylle in Östersund zunächst nicht glücklich.
  • Sie kam mit Halsschmerzen bei der Biathlon-WM an. Doch nun geht es ihr besser - im Einzel will sie wieder nach einer Medaille greifen.
  • "Wenn man sich anschaut, was das Mädel im letzten Dreivierteljahr durchgemacht hat, durch welche Täler die durchgewandert ist: Das ist aller Ehren wert", sagt Disziplintrainer Florian Steirer.

Von Saskia Aleythe, Östersund

In der Mitte quillt das Marzipan hervor. Dann eine Schicht Sahne, darüber der zweite Teil des Hefegebäcks, das mit Kardamom versehen ist - fertig ist Semla, die Süßigkeit, auf die die Schweden stolz sind. Wer die Biathlon-WM in Östersund besucht, kommt bei kaum einem Bäcker daran vorbei, doch Vorsicht ist geboten: König Adolf Friedrich von Schweden hat Ende des 18. Jahrhunderts der Tod ereilt, nachdem er 14 Semlor am Stück verdrückt hat. Soweit die Legende.

Legenden erzählen sie sich hier einige. Das Maskottchen Birger geht auf ein Ungeheuer zurück, das dem See Storsjön westlich von Östersund entstiegen sein soll - fehlende Beweise seiner Existenz interessieren nur Fantasielose. An den kalten Tagen und Nächten muss man sich die Zeit mit schönen und schaurigen Geschichten vertreiben, von denen die Biathleten auch schon welche erlebt haben: Deutsche Euphorie, vor allem bei den Frauen, mit bislang vier Medaillen aus fünf Rennen; ein Norweger, der sich nur selbst besiegen kann (und das auch tat); die Schweden, denen die Nerven flattern vor heimischer Kulisse; ein überraschender Weltmeister. Es gab schon langweiligere Titelkämpfe. Um es in den Worten von Frauenbundestrainer Kristian Mehringer zu sagen: "Man geht glücklich ins Bett, und in der Früh steht man euphorisch wieder auf."

Vor allem für Denise Herrmann war es am Montag ein herrliches Erwachen: Nach ihrer Goldmedaille in der Verfolgung zum ersten Mal als Weltmeisterin die Augen zu öffnen, ist etwas Besonderes. Zum ersten Mal seit Tagen begrüßte die Morgensonne die Athleten. Und die leben in Östersund ja unter besonderen Umständen: In den Häusern schwedischer Familien, die den Lauf- und Schießkünstlern ihre Heime zur Verfügung gestellt haben. Ein Haus für die deutschen Männer, eins für die Frauen, eins für Ärzte, Köche, Techniker, unweit der Arena. Es war ein Wunsch der Sportler nach mehr Gemütlichkeit und Privatsphäre. Dafür muss jetzt aber auch der Schnee vorm Haus geschippt werden.

Dahlmeier ist in der schwedischen Idylle zunächst alles andere als glücklich

"Wenn sechs Kerle, fremde Typen, in mein Haus ziehen würden, würde ich sagen: Das finde ich vielleicht nicht so toll", wunderte sich Erik Lesser über die Gastfreundschaft. Zusammen mit Arnd Peiffer teilt er sich das Schlafzimmer der Eltern, "weil wir die zwei Ältesten sind". Benedikt Doll und Roman Rees sind im Gästezimmer, Johannes Kühn ist im Büro, Philipp Nawrath im Kinderzimmer. "Wir haben eine supergute Stimmung, es ist tipptopp", berichtete auch Laura Dahlmeier aus ihrer Unterkunft, "wenn man die Schublade aufmacht und das ein oder andere Spielzeug fliegt raus, ist es auch interessant." Und vielleicht sogar ein bisschen Ablenkung für eine, die in der schwedischen Idylle zunächst alles andere als glücklich war.

Die Vorbereitung auf die WM hat Dahlmeier in der holprigen nacholympischen Saison mit "vielen Aufs und Abs" aufgrund gesundheitlicher Probleme ausnahmsweise wie geplant absolviert - stieg dann aber bei der Ankunft in Schweden mit Halsweh aus dem Flieger. Die Mixed-Staffel eroberte ohne sie Silber, aber Dahlmeier hatte für sich alles richtig gemacht: Sie gewann trotz ihres Hustens Bronze in Sprint und Verfolgung. "Wenn man sich anschaut, was das Mädel im letzten Dreivierteljahr durchgemacht hat, durch welche Täler die durchgewandert ist: Das ist aller Ehren wert", sagte Disziplintrainer Florian Steirer, seit Saisonstart der zweite neue Mann im Trainerteam der Biathleten.

"Sie fühlt sich gesundheitlich schon besser", berichtete am Montag Mehringer; läuferisch fühle sie sich zwar noch nicht optimal, aber das Einzel am Dienstag (15.30 Uhr im SZ-Liveticker) will sie bestreiten. Im Gegensatz zu Herrmann, die sich Kräfte für die Staffeln und den Massenstart aufheben möchte. Weil im Einzel auf jeden Schießfehler eine Strafminute folgt, ist sie da als schwächere Schützin sowieso keine Idealbesetzung.

Der Erfolg der 30-Jährigen hat zu einer interessanten Konstellation in Östersund geführt: Ist sie doch die Erste im aktuellen Frauenteam, die neben Laura Dahlmeier in einem Einzelrennen eine Medaille gewonnen hat. Franziska Hildebrand, Franziska Preuß und Vanessa Hinz gehören seit Jahren fest zu den Starterinnen bei Großveranstaltungen, konnten sich aber (abseits von der Mixed-Staffel) in Östersund nicht gegen die Konkurrenz durchsetzen. Ein 16. Platz von Preuß im Sprint ist das beste Ergebnis jenseits von Herrmann und Dahlmeier.

Bei den Männern ist die Sache komplizierter. Die Hausgemeinschaft präsentiert sich in Östersund mannschaftlich stark - Erik Lesser, Benedikt Doll und Arnd Peiffer haben ja alle schon Titel gewonnen -, aber in Mittelschweden sind sie bisher ohne entscheidenden Ausreißer nach oben geblieben. Im Sprint landeten gleich vier Athleten unter den besten zwölf, in der Verfolgung verschossen vor allem Doll und Lesser beste Chancen auf Medaillen. "Da war das ein oder andere Fehlerchen zu viel", sagte Bundestrainer Mark Kirchner. Erst am Mittwoch geht es für sie im Einzel mit der nächsten Chance weiter. Vor zwei Jahren in Hochfilzen war Lesser mit einem Fehler zu viel knapp an Bronze gescheitert.

Was Prognosen für die kommenden Tage angeht, ist ohnehin ein anderer Favorit: Johannes Thingnes Bö, der Olympiasieger und Sprint-Weltmeister, dem sich die Konkurrenz scheinbar ergeben hat. Schon am Sonntag hätte der 25-Jährige seine zweite Goldmedaille einheimsen können; er skatete in der Verfolgung einsam an der Spitze zum letzten Schießen - und vergab dann mit drei Fehlern den Sieg. Danach war der Norweger der genervteste Mann, der je auf einem Podium gestanden hat. Es dauerte eine Stunde, bis er wieder einen halbwegs aussagekräftigen Satz parat hatte: "Ich werde nach diesen schrecklichen Fehlern mit Wut im Bauch angreifen."

Für den Rest der Biathleten ist das keine gute Nachricht, unter anderem für die Schweden: Bei ihrer Heim-WM sind sie noch immer ohne Medaille, während die Nachbarn aus Norwegen schon fünf haben. Dass die Slowakin Anastasiya Kuzmina zu den Höhepunkten immer in Bestform kommt, weiß man mittlerweile; ihr Sprint-Gold überraschte weniger als der Verfolgungssieg von Dmytro Pidruschni aus der Ukraine. Vor der WM die Nummer 25 der Welt und noch nie im Weltcup erfolgreich - und plötzlich ganz oben.

Hinter den süßen Geschichten hat die schaurigste diese WM bisher verschont: Nach der Razzia bei der Nordischen Ski-WM in Seefeld sind in Östersund keine neuen Dopingfälle aufgetaucht. Aber noch immer ermitteln Behörden gegen fünf russische Biathleten, die bei der WM 2017 in Hochfilzen betrogen haben sollen. Einer, der bis Ende 2016 wegen Epo-Missbrauchs gesperrt war, kletterte in Östersund aufs Podest: Alexander Loginow, Silber-Gewinner im Sprint.

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Quelle:
SZ vom 12.03.2019/tbr
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