Biathlon:Eine Strafrunde, in der es keine Sorgen gibt

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"Alle Jungen, alle Mädchen, zieht eure T-Shirts aus", stimmt die Band am Samstagabend im Ruhpoldinger Champions Park an, ehe sich der frühere Biathlet Michael Rösch oben ohne in die Menge wirft. (Foto: Korbinian Eisenberger)

Das Publikum verwandelt den Biathlon-Ort Ruhpolding auch nach der Pandemie zuverlässig in eine Partymeile - doch seither hat sich manches verändert. Ein Ortsbesuch.

Von Korbinian Eisenberger, Ruhpolding

Um die Stimmungslage am Biathlon-Standort Ruhpolding zu erahnen, hilft seit 20 Jahren ein Indikator namens Karlheinz Kas. Der 67 Jahre alte Stadionsprecher ist so etwas wie der Inbegriff dieser Chiemgauer Traditionsveranstaltung. Tagsüber sieht man Kas kommentieren, hinter Glas im Sprecherhaus neben der Haupttribüne sitzend. Des Nachts trifft man ihn am zweiten wichtigen Aufenthaltsort dieser Tage von Ruhpolding: im sogenannten Champions Park, wo die Menschen nicht hinter dem Glas sitzen, sondern davor.

Biathlon-Weltcup in Ruhpolding ist seit einigen Jahrzehnten ein Hybrid aus Spitzensport und Festrausch. Vom Stadion geht es nach den Rennen per Bus ins Dorf - und dann hinein in ein Gelände mit Hütten und Ständen. Seit der Eröffnung dieses Champions Parks im Jahr 1994 ist dieser Ablauf zur Tradition geworden, wenngleich nicht wenige Ruhpoldinger den Tagesordnungspunkt Stadionerlebnis überspringen und sich direkt zur einzigen Strafrunde begeben, in der die Menschen freiwillig Zeit verbringen: in die berühmt-berüchtigte Bar mit eben diesem Namen. Knapp drei Jahre war diese Tradition unterbrochen - und es stellte sich die Frage, ob es wieder so wird, wie es einst war.

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Donnerstagfrüh in Ruhpolding, ein Mann mit gelber Ski-Jacke kommt ins Biathlon-Stadion, er hält sich den Kopf. "I bin dafür einfach zu alt", sagt Karlheinz Kas. Sie haben ihn wieder nicht gehen lassen, aus der Voglwuid-Hütte im Champions Park, immer später ist es geworden. Nun soll er gleich das Frauen-Einzel kommentieren. Eine Stunde später sitzt er, als wäre nichts gewesen, in seiner Kabine, begrüßt die Zuseher, während sein DJ wie immer vor Rennbeginn das Flaggen-Lied auflegt, eine Hymne an die Fahne. In jeglicher Hinsicht.

Nicht wenig von einst ist hier wiederzuerkennen, zwischen Rauschberg und Sonntagshorn. Insgesamt knapp 70 000 Menschen werden bis Montag ins Stadion gekommen sein, so viele wie vor der Zwangspause durch die Pandemie. Stadionsprecher Kas meint weniger norwegische Fans zu erkennen als sonst. "Ich schätze, die werden sich auf die WM in Oberhof konzentrieren", sagt er. Am Wochenende drückten die Sportler ihre Begeisterung für den Zuspruch aus, viele von ihnen kannten Ruhpolding bis dato nur ohne Fans oder aus dem Fernsehen. Das Publikum ist also zurück. Und doch unterscheidet sich das Ruhpolding aus dem Januar 2023 nicht unwesentlich vom alten Ruhpolding.

Karlheinz Kas in seiner Kommentatorenkabine am Sonntag im Ruhpoldinger Stadion während des Massenstarts der Frauen. (Foto: Privat)

Schneemangel ist schon länger Thema, nicht nur im Chiemgau, sondern in fast ganz Wintersport-Europa. Nie aber schlug sich die globale Klimaerwärmung derart drastisch in Ruhpolding nieder wie in diesen Tagen. Erst Regen, dann Sonne, dann wieder Regen. Und wenn es mal schneite, dann fiel der Schnee nicht weit genug hinab. Die Biathlon-Loipe konnten sie dank des Ruhpoldinger Schneedepots dennoch ins Tal modellieren, wie angekündigt zogen die Veranstalter alle sechs Wettkämpfe durch, ungekürzt. Von den Athleten gab es dem Vernehmen nach nur Lob für die Qualität der Strecke - und schließlich auch von Karlheinz Kas, der dem Chefpräparator Alois Reiter übers Stadionmikrofon dankte. Reiter und sein Team haben ein Kunstwerk aus Kunstschnee geschaffen, nur deswegen konnte die Ruhpoldinger Renaissance ausgerufen werden.

Zu später Stunde versinken alle im kollektiven Rausch

Die allgemeine Schneeknappheit aber wird wohl bleiben. Das macht Wintersportveranstaltungen aller Art teurer und schwieriger durchzuführen. Zur Attraktivität der Planung trägt das alles weniger bei, das hat sich zuletzt auch in Ruhpolding gezeigt. Der Gemeinderat hatte dort auf die finanziellen Belastungen reagiert und den Champions Park schon abgesetzt - auch, weil der Betrieb samt Siegerehrung und Technik zuletzt 50 000 Euro Jahresverlust verursacht hatte. Dass Karlheinz Kas sich an diesem Mittag den schmerzenden Kopf reibt, hat er einer Privatfirma zu verdanken, die den Betrieb des Parks doch noch übernahm. Etwas kleiner, mit weniger Hütten, ohne Siegerehrung - aber immerhin mit der Strafrunde.

Samstagabend, der letzte große Auftritt im Champions Park. Mickie Krause hatte am Dienstagabend eröffnet, nun beschließt die "Guten A-Band" Cover-Musik- und wortspielend das Finale. "Alle Jungen, alle Mädchen, zieht eure T-Shirts aus", stimmen sie an, während der frühere Biathlet Michael Rösch oben ohne von der Bühne springt und von den Händen der Menge getragen wird, ehe einige im Publikum sich ihrerseits das Oberteil vom Leib ziehen. "Nackt baden gehen" spielen sie auch noch, die Traun fließe ja unweit der Bühne vorbei. So warm aber ist es in Ruhpolding dann doch nicht.

Etwas weiter vor der Bühne haben sich Skandinavier, Franzosen, Italiener, Thüringer und Hamburger versammelt. Ganz vorne stehen die Jüngsten im Publikum, überwiegend Einheimische. Oder besser: Sie tanzen im Pogo-Stil wie bei einem Heavy-Metal-Festival. Für die Chiemgauer ist Biathlon-Ruhpolding ja wie für die Münchner das Oktoberfest. Die Hütten sind am Samstagabend kurz nach der Eröffnung des Parks voll und dicht - in der Strafrunde ist das der Dauerzustand. Zu später Stunde, die Band ist längst von der Bühne, versinkt das Gelände im kollektiven Rausch. Klimawandel, Geldmangel, Pandemie? Es ist nun alles wie früher, als wäre nichts gewesen.

Dass sie das Gelände nun absperren und fünf Euro Eintritt für Gäste verlangen, die nicht aus dem Stadion kommen? Trägt offenbar nicht sonderlich zur Abschreckung bei. Und was die neu eingeführten, täglichen Bandauftritte betrifft: Im Traunsteiner Tagblatt fand sich kürzlich ein Leserbrief eines entsetzten Biathlon-Gastes: "Mir ist es unbegreiflich, wieso ein so gut situierter Tourismusort meint, sich mit solch einem 'Ballermann-Künstler' schmücken zu müssen", hieß es. Karlheinz Kas seinerseits sah dem Auftritt Mickie Krauses entspannt zu. Er war ja ohnehin jeden Abend im Champions Park, nicht ungern in der Voglwuid-Hütte, da geht es nicht ganz so eng zu. An diesem letzten Abend aber, da fehlte er. Auch das ist möglich, im Ruhpolding 2023.

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